Angst vor dem Flächenbrand
Israel beobachtet angespannt, was im Nachbarland Ägypten passiert
Die politischen Führer hüllen sich in Schweigen. Doch auf den Straßen Israels gibt es in diesen Tagen nur ein Thema: Was wird aus Ägypten? Was wird aus uns?
Der Fernseher läuft ununterbrochen. Die Bilder von den Protesten in Kairo begleiten die Familie Turgeman sogar beim Shabbat-Abendessen. Nur zum traditionellen Segensspruch, dem Kiddusch, schaltet Hausherr Shalom Turgeman den Ton aus. Doch die Bilder bleiben im Raum.
»Das ist nicht gut«, sagt er und starrt mit gerunzelter Stirn auf den Plasmabildschirm, »das ist gar nicht gut, was da jetzt passiert.« Die ganze Familie hat sich an diesem Freitagabend im Wohnzimmer der Turgemans versammelt. Das üppige Abendessen wird zur Nebensache. Alles dreht sich in diesen Tagen um die Ereignisse in Ägypten. Das sonst so comedylastige Wochenendprogramm des israelischen Fernsehens wird von Sondernachrichtensendungen unterbrochen. Und auch die großen Zeitungen kennen nur ein Thema: »Ägypten in Flammen« titelt etwa das Massenblatt »Ma'ariv«.
»Wir sind sehr besorgt«, sagt Shalom Turgeman. »Was passiert, wenn die islamischen Fundamentalisten nun die Macht übernehmen? Wir haben eine gemeinsame Grenze mit denen. Das ist nicht Tunesien, das ist Ägypten – das größte arabisch-islamische Land, mit dem wir bis jetzt in Frieden gelebt haben.« Der 61-Jährige arbeitet als Taxifahrer in Jerusalem. Im Radio, das er auf seinen Fahrten immer eingeschaltet hat, geht es ebenfalls »ausschließlich um Ägypten, den ganzen Tag«. Alle seien besorgt, das bekomme er durch die Gespräche mit seinen Fahrgästen mit.
Dass die Menschen am Nil für Demokratie kämpfen, beruhigt die Turgemans nicht – im Gegenteil. »Da wird vielleicht im Namen der Demokratie eine Revolution begangen, aber was am Ende dabei rauskommt, weiß doch niemand«, sagt Asher Turgeman, Shaloms Bruder. »In Iran haben die Menschen einst auch demonstriert, und heute haben sie dort den größten Diktator überhaupt. Und schau dir die Hamas an: Auch die ist in einem demokratischen Verfahren an die Macht gekommen«, meint der 52-Jährige.
Die Turgemans haben, wie viele Menschen in Israel, Angst vor dem Flächenbrand, der sich von Tunesien aus auf die gesamte arabische Welt ausbreitet. »Was ist, wenn es nun auch noch in Jordanien los geht?«, fragt Asher Turgeman. »Da sind schließlich 80 Prozent der Bevölkerung Palästinenser!«
»Wir sehen ja jetzt, wie schnell sich alles ändern kann«, sagt auch Itai Kuchinsky. Der 31-Jährige lebt im Kibbuz Dan, nur zwei Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt. »In der nächsten Zeit geht es wirklich um die Wurst: Entweder wir geben den Palästinensern und den Syrern Land zurück, oder es wird wieder zu einem großen Krieg kommen.«
Dass es zusätzlich zu den Ereignissen in Tunesien und Ägypten auch in Libanon einen Umschwung gegeben hat, besorgt ihn zurzeit noch nicht so sehr. »Klar, die Hisbollah ist sehr Angst einflößend. Die ist ein Sprengsatz, der jeden Moment hochgehen kann. Aber noch ist hier bei uns alles ruhig.« Sollte sich die Lage im Norden jedoch verschärfen, dann weiß Kuchinsky, der bei der israelischen Armee Reservedienst leistet, was er zu tun hat: »Dann ziehe ich meine Uniform an, gehe zu meiner Einheit und kämpfe. Wir als Juden haben keinen anderen Platz, an den wir ziehen können. Und darum kämpfen wir.«
Reiseleiter Erez Herrnstadt aus der südisraelischen Hafenstadt Eilat, einem Touristenzentrum, bekommt die Folgen der Revolution bereits zu spüren: Am Sonntag ist seine Leitung ständig belegt. »Ich bekomme einen Anruf nach dem anderen.« Herrnstadt ist besorgt, klingt leicht panisch. Einige israelische Touristen, die über sein Tourunternehmen eine Fahrt auf den Sinai gebucht hatten, befinden sich noch in Ägypten. Am Freitag hatte das israelische Außenministerium eine Reisewarnung für Ägypten und den Sinai – einem beliebten Urlaubsziel für Israelis – herausgegeben. Nun wird Herrnstadt mit den Anfragen besorgter Verwandter bombardiert, die wissen wollen, was jetzt mit ihren Angehörigen passiert. »Wir versuchen, die Leute irgendwie rüber zu bekommen, zurück nach Israel. Aber mehr kann ich zurzeit nicht sagen, wir sind im Vollstress.« Alle weiteren Touren nach Ägypten wurden abgesagt – für unbestimmte Zeit.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!