»Wir jungen Libyer wollen Lebensperspektiven«
Gaddafis Volksstaat erlebt Unruhen wie noch nie seit der Gründung
In der Vergangenheit war es höchstens zu kleineren, lokal begrenzten Protestaktionen gekommen, so in der ostlibyschen Hafenstadt Bengasi oder im Gebiet von Dschebel Akhdar sowie in al-Beidha, wo der von den Offizieren um Muammar al-Gaddafi 1969 abgesetzte König Idriss noch immer verehrt wird. In Tripolis aber war es stets ruhig geblieben. Am Montag nun brannte in der Hauptstadt laut Augenzeugenberichten ein Regierungsgebäude. Nach Angaben des katarischen Fernsehsenders »Al Dschasira« wurden bisher insgesamt über 60 Menschen getötet.
Mohammed S.* (25), derzeit im Studium zum Elektroingenieur, hat die Proteste in Tripolis direkt vor seiner Haustür. Gegenüber ND erklärt er den Unmut der überwiegend jungen Demonstranten mit der fehlenden Meinungsfreiheit: »Man darf noch nicht einmal öffentlich etwas gegen die überall grassierende Korruption sagen. Dafür kann man ins Gefängnis kommen. Kritische Meinungen und eigenes politisches Denken werden unterdrückt.«
Libyen, Mitglied der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC), gehört dank seiner enormen Vorkommen an Gas und Öl zu den finanziell potentesten Staaten Afrikas. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei 9000 Euro pro Jahr, im Nachbarland Ägypten im Vergleich dazu bei nur 1500 Euro. Seit mehreren Jahren profitiert Libyen stark vom Anstieg der Weltmarktpreise und der Nachfrage bei Energierohstoffen. »Doch leider kontrollieren Gaddafis Söhne beinahe alles: die Förderanlagen, die Erlöse aus den Exporten, die Kommunikationswege, selbst die Armee«, klagt Mohammed.
Daher verlangen die Leute nun endlich, inspiriert durch die Aufstände im östlichen wie im westlichen Nachbarland, nach Demokratie: »Die Leute auf der Straße wollen, dass Gaddafi seine Macht an das Volk abgibt. Doch anstatt auf die Proteste mit Reformen zu reagieren, wurden durch Armee und Polizei Hunderte Demonstranten getötet, weil das Regime und die von ihm profitierenden Familien ihren Einfluss und ihre Pfründe sichern wollen«, meint der Student. »Doch seit Montagmittag ist die Stimmung aufgeheizt, die Leute sind wütend, weil unbewaffnete, friedliche Demonstranten getötet wurden.«
Die Stimmung in Tripolis habe sich um 180 Grand gedreht. »Am Freitag hatte die vom Regime initiierte Demonstration noch Volksfestcharakter«, sagt gegenüber ND auch Renate Eisel, die das Goethe-Sprachlernzentrum in Tripolis leitet und in der Innenstadt unweit des Grünen Platzes wohnt.
Khaled Mohammed B. (24), Analyst bei einer Marketingfirma in Tripolis, teilte ND seine Beobachtungen mit, dass »Militärhubschrauber über der Hauptstadt kreisen und Sicherheitskräfte in der Stadt in Position gegangen sind.« Er habe außerdem gehört, dass die regierungsfreundlichen Demonstranten am Freitag pro Nase 100 Libysche Dinar (umgerechnet etwa 58 Euro) von Regierungsbeamten erhalten hätten für die Teilnahme an der Pro-Gaddafi-Demonstration.
Der Durchschnittslohn eines Arbeiters liegt umgerechnet bei etwa 510 Euro im Monat. »Die Menschen gehen nicht nur für politische Reformen auf die Straße. Sie wollen auch mehr Teilhabe an den Einkünften aus den Rohstoffexporten des Landes«, sagt Khaled Mohammed. Und sie wünschten sich auch mehr Möglichkeiten zur Lebensgestaltung bei einer allgemein höheren Lebensqualität: »53 Prozent der Libyer sind unter 24 Jahre alt. Doch uns wird nichts geboten, weder berufliche Perspektiven noch Zukunftssaussichten.« Das liege nicht daran, dass Libyen zu 95 Prozent aus Wüste bestehe. »Selbst in Tripolis gibt es für uns Jugendliche kein Kultur- und Freizeitangebot. Außer privaten Partys ist bei uns nichts los.«
Libyen ist eine Art Volksstaat mit Einflüssen aus der Berbertradition, der Beteiligung von Dorfräten und Elementen direkter Demokratie. Als nationales Parlament fungiert der Allgemeine Volkskongress (AVK), der 468 Mitglieder umfasst und alle drei Jahre von regionalen Basisvolkskongressen gewählt wird.
Der AVK tagt jährlich und setzt das nationale Allgemeine Volkskomitee, faktisch die Regierung, ein. Der AVK wird von einem siebenköpfigen Generalsekretariat mit einem Generalsekretär an der Spitze geführt, der offiziell als Staatsoberhaupt betrachtet wird. Der eigentlich Staatschef Gaddafi hat offiziell kein Amt inne. Laut Khaled Mohammed »inszeniert er sich aber gern als normaler, einfacher Staatsbürger, der vor laufenden Kameras die libysche Regierung hart angeht. So kritiserte er die Regierung dieser Tage etwa dafür, dass es zu wenig preiswerte Wohnungen gebe und dass die Regierung zu wenig für das Bildungsangebot tut.«
Doch bei der Jugend scheint die Rhetorik des »Führers der Revolution« zur Zeit offenbar nicht mehr anzukommen: »Wir wissen ganz genau, wer für unsere Lage und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in unserem Lande verantwortlich ist«, sagt Khaled Mohammed B. »Demokratie gibt es in diesem Land nicht. Auch wenn sie auf dem Papier steht.«
*Die vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt.
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