Auch in Saudi-Arabien gibt es einen »Tag des Zorns«
Der Ölgigant konnte bisher mit der Nachsicht des Westens rechnen
Saudi-Arabien fördert knapp neun Millionen Barrel Rohöl pro Tag, ein Neuntel der Weltproduktion. Das Königreich ist der einzige Ölexporteur, der allein den Ausfall jedes anderen Mitglieds der Organisation Ölexportierender Länder auszugleichen vermag. Die Abhängigkeit des Westens von Saudi-Arabien bei der Energieversorgung sei der Hauptgrundrund, weshalb dort bei Menschenrechtsverstößen in Saudi-Arabien weggeschaut werde, vermuten deshalb saudische Menschenrechtsaktivisten gegenüber ND.
Grundlagen des Rechtswesens in Saudi-Arabien sind das überlieferte islamische Recht (Scharia) und die Verlautbarungen verschiedener islamischer Rechtsschulen. Die Strukturen der Gesellschaft sind völlig dem Islam untergeordnet. »Wir brauchen dringend einen Wandel«, meint deshalb Mohammad Fahad al-Qahtani, Direktor der Saudischen Vereinigung für zivile und politische Rechte, die im Februar in einer Erklärung an König Abdullah die Umwandlung des absolutistischen Königreiches in eine konstitutionelle Monarchie anregte: »Dieses Rechtssystem führt zwangsläufig zu Menschenrechtsverstößen. Sie sind diesem System immanent«.
Dazu gehört auch die fundamentale Diskriminierung von Frauen. »Sie haben keine legale Identität, sind de jure nicht mündig, brauchen für jede zivilrechtliche Handlung einen männlichen Rechtsvorstand«, ergänzt Ibrahim al-Mugaiteb, Direktor der »Ersten Gesellschaft für Menschenrechte« in Dammam, einer Großstadt am Persischen Golf. Frauen waren auch nicht bei den 2005 erstmals durchgeführten Kommunalwahlen
abstimmungsberechtigt.
Mugaiteb kritisiert ebenfalls die häufige Anwendung der Todesstrafe – Todesurteile werden gewöhnlich freitags nach dem Mittagsgebet vor einer Moschee vollstreckt – sowie die Unterdrückung religiöser Minderheiten: »Schiiten werden von den herrschenden Wahhabiten als Ungläubige angesehen und sind deshalb zum Beispiel von vielen Berufen ausgeschlossen.«
Ein weiterer Kritikpunkt sind die politischen Gefangenen in Saudi-Arabien. 15 000 gebe es, die ohne Gerichtsverhandlung in Haft sitzen, teilweise seit Jahren«, sagt Mugaiteb und nennt die sogenannten neun Reformer von Jidda, unter ihnen Juristen und Mediziner, die eine Petition an den König sandten und seitdem in Isolationshaft sind, die sich dieser Tage zum vierten Mal jährt. »Sie alle haben keinen Zugang zu ihren Anwälten. Es gibt kein Urteil und folglich auch kein Strafmaß. Wir haben das Innenministerium um eine Anhörung dieser Männer vor Gericht gebeten, bisher vergeblich.«
In Saudi-Arabien gibt es kein Parlament und keine zugelassenen Parteien. Ungeachtet dessen gründete sich am 9. Februar die Partei Umma (Nation). Eine Woche später wurden alle vier Gründer durch den Geheimdienst DGI verhaftet. Der DGI ist gefürchtet für seine grausame Verhöre. Im Dezember wurde der politische Häftling Sultan Mohammed Abdoh al-Duais im
Qassim-Gefängnis, 300 Kilometer nördlich der Hauptstad Riad, durch den DGI zu Tode gefoltert, sagt Qahtani. Bis heute weigern sich die Behörden, der Familie die Leiche zu übergeben. »Wahrscheinlich weil sie schrecklich entstellt ist.«
Ein lokaler Rechercheur von amnesty international, der anonym bleiben möchte, erklärt gegenüber ND: »Ausgebildet wurden die Folterer des DGI von den USA, 20 Kilometer südlich von Riad auf einem Militärstützpunkt. Westliche Länder preisen scheinheilig Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Aber sobald es um ihre wirtschaftlichen Interessen geht, erweisen sich ihre Werte als erstaunlich flexibel«, kritisiert Qahtani. Dass das Land die größten Ölvorkommen der Welt beherberge und unverzichtbarer Rohstofflieferant der Weltwirtschaft sei, erkläre die Doppelmoral des Westens.
Für den 11. März ist in Saudi-Arabien ein »Tag des Zorns« angekündigt. Mugaiteb sieht in der Demonstration Hunderter unzufriedener Schiiten in Katif am Persischen Golf in der letzten Woche ein Anzeichen für erste Regungen des Protestes. Anfang Februar hatten 53 Frauen vor dem Innenministerium in Riad demonstriert Sie kamen aus Asir im Südwesten des Landes und forderten die Freilassung von Verwandten, die unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung ohne Prozess inhaftiert worden waren. Die Frauen wurden verhaftet. Eine derartige Aktion sei jedoch eine absolute Ausnahme gewesen, sagt auch Mugaiteb.
Damit sich dies in Zukunft ändert, bemüht sich Qahtani unermüdlich um Aufklärung seiner Landsleute. Er veranstaltet jeden Montagabend in Riad offene Treffen. Seine Gesellschaft hat kürzlich sogar eine Broschüre herausgegeben, die über Protestformen informiert und beschreibt, was zum
Beispiel ein Sit-In ist. Für den 11. März ruft Qahtani jedoch noch nicht zu Sitzblockaden auf: »Für einen Aufstand wie in Bahrain ist es bei uns noch zu früh. Ich hoffe, dass wir in drei Jahren so weit sind.«
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