Greenpeace der Finanzmärkte
Als Gegengewicht zur Macht der Lobbyisten initiieren Parlamentsabgeordnete in Brüssel »Finance Watch«
Die Weltwirtschaftskrise führte spätestens im Jahr 2010 dazu, dass auf EU-Ebene über weitgehende Regulierungsvorschläge des Finanzmarktes verhandelt wird. Diese Ankündigung alarmierte die Lobbyisten, von denen es in Brüssel etwa 15 000 gibt. Nur magere zehn Prozent davon arbeiten für Gewerkschaften und NGOs.
Der Koordinator der Linksfraktion im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments (ECON-Ausschuss), Jürgen Klute, ist zu einem begehrten Gesprächspartner der Finanzmarktindustrie geworden. Nach eigenen Worten wurden er und seine Kollegen im ECON-Ausschuss »von einer unglaublich großen Lobby« regelrecht belagert. Das Fass zum Überlaufen brachten die Lobbyisten, als sie sogar bei ihm zu Hause am Wochenende um Gespräche baten. Alle, die eine weitergehende Regulierung der Finanzmärkte wünschten, sahen sich »einer unglaublichen Phalanx« von Lobbyisten gegenüber.
Gefahr für die Demokratie
Auch Pascal Canfin, Abgeordneter der französischen Grünen im Europäischen Parlament, wurde unter Druck gesetzt. Ihm gelang es daraufhin, im Juni 2010, eine breite Mehrheit im ECON-Ausschuss für einen Aufruf zur Gründung einer Art »Greenpeace der Finanzmärkte« zu mobilisieren und »die Öffentlichkeit auf die Gefahren für die Demokratie aufmerksam zu machen«. Es geht um die ausgewogene Repräsentation unterschiedlicher Interessen im Gesetzgebungsprozess. Bisher gibt es in Brüssel jedoch nur eine vernehmbare Position: die der Finanzmarktlobby. Zu den Unterzeichnern gehören die Koordinatoren des ECON-Ausschusses der Fraktionen der konservativen Europäischen Volkspartei, der Sozialdemokraten, der Liberalen, der Grünen und der Linken (GUE/NGL). Ihnen geht es nicht darum, den Finanzmarkt abzuschaffen. Sie wollen das »Kasino unter demokratische Kontrolle bekommen«, wie es Sven Giegold von den Grünen formulierte.
Ziel der sich in Gründung befindlichen Organisation Finance Watch ist es, jene Stimmen zu stärken, die von der Finanzindustrie nicht repräsentiert werden, damit sie die Entscheidungsprozesse beeinflussen können, die für Fragen der Regulierung der Finanzmärkte und finanziellen Aktivitäten relevant sind. In den Gründungsdokumenten heißt es weiter: »Grundlegend für das Handeln von Finance Watch ist die Überzeugung, dass die Gesellschaft die Finanzmärkte überwachen muss.«
Die Finanzindustrie soll, so die Initiatoren, derart organisiert sein, dass sie den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Realwirtschaft insofern dient, dass Zugang zu Krediten und Finanzdienstleistungen in einer nachhaltigen, gerechten und transparenten Art und Weise gewährleistet ist.
Nach Aussage des Projektmanagers von Finance Watch, Thierry Philipponnat, wird sich die NGO in die derzeit im Europäischen Parlament laufenden Verhandlungen um die Regulierung von Leerverkäufen einmischen, die der Spekulant Warren Buffett treffend »finanzielle Massenvernichtungswaffen« genannt hat. Die neue Organisation will ebenfalls in die Diskussion um die Finanzmarktrichtlinie intervenieren, wenn der Ausschuss im Mai seine Pläne vorlegt, in denen der Wertpapierhandel europaweit geregelt und der Anlegerschutz verbessert werden.
Fachwissen zur Steuerung der Märkte
Jürgen Klute erhofft sich von der neuen Organisation, dass sie den Parlamentariern fachspezifisches Wissen vorlegt, um der Finanzmarktlobby etwas entgegenhalten zu können. Es sei klar, sagt er, dass Konservative und Liberale andere Ziele verfolgen als Linke. Aber auch konservative Politiker wollen nicht einer einzigen Seite komplett ausgeliefert sein. Darüber hinaus dürfe man nicht vergessen, so Klute, dass es in Europa Liberale und Konservative gibt, die in gaullistischer Tradition dem Staat gerade jetzt wieder mehr Steuerung der Märkte zubilligen. Der Erfolg von Finance Watch wird davon abhängen, ob es über Parteigrenzen hinweg gelingt, der Organisation die notwendige Geltung zu verschaffen.
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