Atomkraft-Konsens auf der Kippe
Nuklearkatastrophe in Japan macht auch Franzosen nachdenklich
An 19 Standorten in Frankreich produzieren 58 Reaktoren insgesamt 82 Prozent der Elektroenergie des Landes. Bislang erfreut sich die Nutzung der Atomenergie einer breiten Zustimmung der Öffentlichkeit und quer durch die Parteienlandschaft, von der rechten Regierungspartei UMP bis zu den Kommunisten. Ausgenommen davon sind nur die Grünen. Doch man findet hierzulande selbst Umweltschützer, die in den Kernkraftwerken mehr Nutzen als Gefahren sehen. Schließlich gehört Frankreich nicht zuletzt dadurch zu den Ländern in Europa mit der besten CO2-Bilanz. Doch die Ereignisse in Japan, dem anderen führenden Atomkraft-Land, haben auch hier mit aller Schärfe Fragen nach dem Sicherheitsrisiko aufgeworfen, die man wohl bislang lieber verdrängt hat.
Die meisten französischen Reaktoren sind mehr als 30 Jahre alt und entsprechen trotz mancher Nachrüstung nicht mehr dem neuesten technischen Stand. Sechs Standorte befinden sich in Zonen mit einem »gewissen Erdbebenrisiko«, wie die Behörden einräumen, darunter Fessenheim im Elsass und Cadarache in Südfrankreich, wo es mehrere Forschungsreaktoren gibt und wo jetzt auch noch an dem neuartigen ITER-Reaktor gebaut wird. Alle französischen Reaktoren haben ein doppeltes Kühlwassersystem. Dass sie das auch unbedingt brauchen, zeigte sich im Dezember 2009, als bei dem im Rhône-Tal gelegenen Kraftwerk Cruas Algen in die Ansaugleitung für das Kühlwasser gerieten und die Kühlung des Reaktorkerns zeitweise ausfiel. Im südwestfranzösischen Blayis hatte 1999 ein Hochwasser Teile des Atomkraftwerks überflutet und die Pumpen außer Betrieb gesetzt, die Kühlwasser aus dem nahen Fluss holen.
Vertreter der Rechtsregierung wie Industrieminister Eric Besson und Umweltministerin Nathalie Kosciusko-Morizet bemühen sich seit 48 Stunden, den Franzosen zu versichern, dass eine gefährliche Situation wie in Japan in Frankreich völlig ausgeschlossen sei. Auch der Sprecher der Sozialistischen Partei, Benoit Hamon, meinte abwiegelnd, dass ein »Ausstieg aus der Atomenergie nicht von heute auf morgen möglich« sei.
Die Grünen sowie Vereinigungen wie Sortir du nucléaire (Ausstieg aus der Atomenergie) oder Greenpeace France nutzen dagegen die Gunst der Stunde, um dem Standpunkt der Atomkraftgegner Gehör zu verschaffen. Am klarsten auf den Punkt brachte das wohl Nicolas Hulot, ein populärer Moderator von Fernsehsendungen zur Umwelt, den die Grünen gern zu ihrem Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 2012 machen würden. »Die Zukunft der Atomenergie in Frankreich muss zumindest zum Thema einer breiten öffentlichen Debatte und dann einer Volksabstimmung gemacht werden«, meint Hulot. »Es muss endlich Schluss sein mit der Arroganz zu glauben, dass die Technologie und der menschliche Geist alles können. In Wirklichkeit diktiert uns die Natur ihre Gesetze. Die Atomenergie, wie wir sie heute kennen, kann nicht alleinige Antwort auf unseren Energiebedarf sein.« Die Umweltschützer, die sich gegen den Bau neuer Atomkraftwerke und die stufenweise Stilllegung der alten aussprechen, seien »keine Gegner des Fortschritts«, sondern »sie stellen die richtigen Fragen«, ist Hulot überzeugt.
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