Mehr als nur das BIP
Enquete-Kommission »Wachstum« stellt erste Ergebnisse vor
Was ist besser für die Menschen: eine fünf Jahre längere Lebenserwartung oder ein deutlich höheres Bildungsniveau? Zwar geht es nicht darum, sich entscheiden zu müssen. Doch will man Wohlstand und Lebensqualität einer Gesellschaft beschreiben, müssen den einzelnen Kriterien Werte beigemessen werden. Und das ist eine knifflige Sache.
Bis zum Ende der Legislaturperiode will die Kommission aus 17 Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen und 17 Sachverständigen Indikatoren gefunden haben, mit denen sich gesamtgesellschaftlicher Fortschritt und Wohlstand abbilden lassen. Denn, so sagt die Vorsitzende Daniela Kolbe (SPD) zur Eröffnung der 4. Sitzung mit Blick auf die Katastrophen in Japan: »Der Glaube an den Fortschritt ist brüchig geworden.«
Christoph Schmidt, einer der sogenannten Wirtschaftsweisen, erklärt die vielen Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines Wohlstands- und Fortschrittsindikators. So seien die Ergebnisse von Befragungen, in denen es um das Wohlbefinden geht, mit Vorsicht zu genießen. Die Menschen stünden meist unter dem Eindruck kurzfristiger Entwicklungen. Seine Arbeitsgruppe plant, »harte Informationen« wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um Faktoren wie Bildung, Gesundheit und soziale Teilhabe zu ergänzen. Dies alles soll auf Nachhaltigkeit überprüft werden. Brauchbare Indikatoren müssen also zukunftsbezogene Aspekte mitberücksichtigen.
In welchem Umfang sich wirtschaftliches Wachstum vom Ressourcenverbrauch abkoppeln lässt, ist die große Frage, mit der sich die Arbeitsgruppe von Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, beschäftigt. Dabei sei etwa zu beachten, dass es immer teurer werde, einen Liter Öl zu gewinnen. Es gehe also um den sogenannten ökologischen Rucksack, der Rohstoffe, Herstellung, Gebrauch und Entsorgung eines Produkts berücksichtige.
Wie schwierig das gesamte Vorhaben der Enquete-Kommission ist, zeigen die doch sehr allgemeinen Feststellungen in dem »Konsenspapier«, das Hendrik Enderlein, Professor für Politische Ökonomie an der Hertie School of Governance, vorstellt. So hat sich seine Arbeitsgruppe darauf geeinigt, dass »unbegrenztes Wachstum nicht denkbar« ist. Auch gehen immerhin die meisten der Kollegen von einem tendenziell schwächer werdenden Wachstum aus. Alle erwarten für die nahe Zukunft Wachstumsraten zwischen einem und 1,5 Prozent bei einer älter werdenden und perspektivisch schrumpfenden Gesellschaft – und ziehen sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus. »Kein gewaltiges Problem«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige FDP-Politiker Karl-Heinz Paqué, schließlich seien doch dann auch »weniger Mäuler« zu füttern. Dem widerspricht Kerstin Andreae (Grüne). Im Gesundheitssektor gehe die Rechnung nicht auf.
Norbert Reuter, tätig im Bereich Wirtschaftspolitik und im Bundesvorstand bei Ver.di, betont das »Primat der Politik«, wenn es darum geht zu entscheiden, was wachsen soll und was nicht. Er macht darauf aufmerksam, dass das BIP etwa von der Einkommens- und Vermögensverteilung abhängig ist, von den Produktpreisen, die je nach Macht und Marktposition der Hersteller bestimmt werden können, und vom Marketing der Unternehmen. Man stelle sich vor, so sein Beispiel, wie sich das BIP verändern könnte, würden die Konsumenten statt zum Autokauf mit demselben Aufwand zur Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs motiviert.
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