Kernschmelze in der Regierung beginnt

Nach dem SuperGAU in Japan: Drei Monate Nachdenken über AKW-Laufzeiten – danach ist alles offen

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Bundeskanzlerin Merkel verkündete gestern ein dreimonatiges Moratorium für die erst jüngst beschlossenen AKW-Laufzeitverlängerungen. Einige ältere Meiler müssten dann wohl ganz vom Netz. Derweil spitzt sich die Lage in Japan weiter zu: Im Katastrophen-AKW Fukushima 1 kam es am Montag zu zwei weiteren Explosionen.
Berlin/Tokio (ND-Lambeck/AFP). So schnell kann es gehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die erst im Herbst beschlossenen längeren Laufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke unter dem Eindruck der Katastrophe in Japan für drei Monate ausgesetzt. Sie sagte am Montag im Kanzleramt: »Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.« Alle Meiler würden im Lichte der Erkenntnisse einer Prüfung unterzogen. Für die Aussetzung der Laufzeitverlängerung ist nach Ansicht von Merkel keine Gesetzesänderung nötig. Sie werde mit den Betreibern erörtern, was dies bedeute, sagte die Kanzlerin. Sie werde diese Frage an diesem Dienstag auch mit den Ministerpräsidenten der Länder mit Atomstandorten besprechen. Merkel betonte: »Es gibt bei dieser Sicherheitsprüfung keine Tabus.« Deutschland könne aber noch nicht auf die Atomkraft verzichten. Im Herbst war eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke von durchschnittlich 12 Jahren beschlossen worden.

Eine Folge des Moratoriums könnte die Abschaltung alter Atomkraftwerke sein, die nur infolge der Laufzeitverlängerung am Netz geblieben sind. »Das wäre die Konsequenz«, sagte Merkel am Montag in Berlin auf die Frage, was mit jenen Kraftwerken passiere, deren Reststrommengen bis zur seit 2011 geltenden Laufzeitverlängerung eigentlich verbraucht waren. Dies betrifft das Kraftwerk Biblis A in Hessen und das AKW Neckarwestheim I in Baden-Württemberg. Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) sagte dazu, die Laufzeitverlängerung sei eine »Option zur befristeten Nutzung der Atomenergie, aber keine Garantie für den Weiterbetrieb jedes einzelnen Kernkraftwerks«.

Der Opposition geht das nicht weit genug. Als Konsequenz aus der Katastrophe in Japan wollen die Grünen im Bundestag die sofortige Stilllegung der sieben ältesten Reaktoren beantragen. Die Fraktion werde einen entsprechenden Antrag am Donnerstag ins Parlament einbringen, kündigte Fraktionschef Jürgen Trittin am Montag in Berlin an. Darin werde auch die Rücknahme der jüngsten Änderungen im Atomgesetz gefordert, mit denen Schwarz-Gelb im November 2010 die Laufzeitverlängerung durchgesetzt hatte. Die SPD im Bundestag will für Donnerstag im Parlament eine namentliche Abstimmung über die Laufzeitverlängerung beantragen.

Noch einen Schritt weiter geht die Linkspartei. Sie fordert nun ein im Grundgesetz verankertes Verbot der Nutzung von Kernenergie. Dieses Verbot müsse auch für den Export von Atomtechnologie gelten, sagte der Parteivorsitzende Klaus Ernst am Montag. Für eine Grundgesetzänderung wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig. Ernst sprach sich dafür aus, den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie zunächst mit einfachem Beschluss im Bundestag zu erzwingen. Falls dies nicht gelinge, strebe die LINKE Volksentscheide in den fünf Bundesländern an, in denen es Atomkraftwerke gibt.

Druck kommt nun auch aus den Ländern. So will das rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen am Freitag einen Entschließungsantrag in den Bundesrat einbringen, der zur Rücknahme der Laufzeitverlängerung sowie zur Abschaltung von alten Atomkraftwerken führen soll.

Auch auf der Straße wächst der Druck. Am gestrigen Abend kam es bundesweit zu Aktionen und Mahnwachen. Sie richteten sich nach Angaben der Veranstalter gegen die Nutzung der Atomenergie. Insgesamt waren an mehr als 400 Orten Mahnwachen geplant. Nach Angaben von Umweltgruppen soll es am 26. März in allen Teilen der Republik Großdemonstrationen gegen Atomkraft geben.

In Japan wird die die Situation immer ernster. Nach weiteren Explosionen im vom Erdbeben schwer getroffenen japanischen Kernkraftwerk Fukushima 1 war die Angst vor einer atomaren Katastrophe am Montag weiter gewachsen. Die japanische Regierung schloss einen Unfall mit Folgen wie vor 25 Jahren im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl am Montag jedoch erneut kategorisch aus. Nach Angaben der Atomaufsicht des Landes und des Kraftwerksbetreibers Tepco ereigneten sich am Montag zwei Detonationen, vermutlich Wasserstoffexplosionen, in Reaktor 3 der Anlage. Über austretende radioaktive Strahlung gab es unterschiedliche Angaben. Fernsehbilder zeigten dicke weiße Rauchsäulen über dem Reaktor 3. Bereits am Samstag hatte es in dem rund 250 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Kraftwerk eine Explosion gegeben, durch die das Gebäude rings um Reaktor 1 zerstört worden war.

Tepco erklärte nach den Explosionen vom Montag, das Dach von Reaktor 3 sei eingestürzt, der Reaktorbehälter aber intakt. Regierungssprecher Yukio Edano erklärte, die Wahrscheinlichkeit des Austritts von Radioaktivität an der Anlage sei gering. Nach Angaben der Agentur Jiji wurden elf Menschen verletzt. Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) teilte mit, der Reaktorbehälter sei nicht beschädigt worden.

Die Explosionen rissen ein Loch in das Nachbargebäude, in dem Reaktor 2 untergebracht ist. Am Montag lagen die Brennstäbe im Reaktor allerdings komplett frei, wie japanische Medien berichteten. Dadurch spitzte sich die Lage weiter zu.

Beim Ausfall der Kühlung können Brennstäbe überhitzen, was eine Kernschmelze auslösen könnte. Japans Strategieminister Koichiro Genba erklärte jedoch unter Berufung auf die IAEA, es gebe »absolut keine Möglichkeit eines Tschernobyl«. Edano zufolge ist die Strahlung rund um Fukushima zudem derzeit auf einem für Menschen zulässigem Niveau.

Unterdessen versuchten Helfer aus aller Welt unter schwierigsten Bedingungen, Millionen Erdbeben- und Tsunamiopfer zu versorgen. Zahlreiche Orte sind aufgrund der Zerstörungen nur schwer oder gar nicht erreichbar. Weitere Nachbeben und Tsunami-Warnungen behinderten die Arbeiten.

Nach UN-Angaben hatten mindestens 1,4 Millionen Menschen kein Trinkwasser, 2,6 Millionen Menschen keinen Strom, und 3,2 Millionen Menschen ging das Gas aus. Zudem wurde das Benzin knapp. Angesichts der Ausfälle zahlreicher Kraftwerke wurde damit begonnen, ganze Regionen zeitweise vom Stromnetz zu nehmen. Mehr als 500 000 Menschen harrten laut UNO in Notunterkünften aus. Die Kinderrechtsorganisation Save the Children erklärte, mindestens 70 000 Kinder seien obdachlos geworden.

Laut dem Sprecher des Roten Kreuzes im Asien-Pazifik-Raum, Patrick Fuller, lieferten sich die Helfer einen »verzweifelten Wettlauf mit der Zeit«, um mögliche unter den Trümmern eingeschlossene Menschen zu retten. Soldaten konnten nach Armeeangaben 10 000 Menschen retten, doch mindestens ebenso viele Todesopfer wurden allein in der Präfektur Miyagi befürchtet. Dort bargen Rettungskräfte am Montag etwa 2000 Leichen, womit die Zahl der bestätigten Todesopfer auf mehr als 3600 stieg.

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