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»Babys« auf Zonentour
MERLE HILBK erkundet die Gegend rund um Tschernobyl
Fast ein Vierteljahrhundert nach der Katastrophe von Tschernobyl begibt sich die Journalistin Merle Hilbk in die Region, in der sich im April 1986 die Reaktorhavarie zugetragen hatte. Mehrere Monate lebt sie in Gomel, dem am stärksten betroffenen Bezirk in Weißrussland. Von da aus reist sie durch das Sperrgebiet, fährt sogar bis an den berüchtigten Reaktor Nummer 4 in Pripjat heran.
Ihr Buch erzählt von den Begegnungen mit den Menschen, die sie bei dieser Recherche-Reise auf weißrussischem wie ukrainischem Gebiet getroffen hat. Zu Wort kommen jene, die damals in unmittelbarer Nähe des Unglücks waren. Sie erzählen von dem einst privilegierten Status der Arbeiter in Pripjat, von den tatsächlichen Helden der Katastrophe, den Feuerwehrmännern, von den Gesundheitsbeschwerden, die viele bis heute plagen. Von Kopfschmerzen und Übelkeit und deformierten Körpern. Von dem Tag der Katastrophe.
Aber auch von den Lügen, vom Versagen der sowjetischen Politik, die mehr damit beschäftigt war, das Unglück geheim zu halten als sich um die Betroffenen zu kümmern. Von Abtreibungsgeboten und der Angst, was aus den Kindern – den Tschernobyl-Babys – würde, die in jenem Jahr geboren wurden. Von der Ablehnung denen gegenüber, die nach der Katastrophe umgesiedelt wurden.
Und immer wieder davon, wie schwer es heute wie damals ist, offen über die Ereignisse zu sprechen. Denn auch nach 25 Jahren und zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion ist das nicht gern gesehen.
Die Geschichten verdichten sich zu einem komplexen Bild dieses Tschernobyl. An vielen Stellen gewähren sie aber auch einfach Einblicke in Alltage, die in dieser Mondlandschaft genauso banal sind wie in jedem brandenburgischen Dorf. Während anderswo Tschernobyl weiter als dystopisches Sinnbild für die Gefahren der Atomkraft steht, wird dort längst wieder gelebt – nicht zuletzt als Auswirkung eines bizarren staatlichen Normalisierungskurses. Weißrusslands autokratischer Präsident Alexander Lukaschenko forciert ein Wiederbesiedlungsprogramm, und die Ukraine vermarktet den Zonen-Besuch offensiv als Touristenattraktion.
Immer mit dabei auf Hilbks Reisen ist die junge Mascha, die selbst ein »Tschernobyl-Baby« ist und ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge hat. Das Interesse der Deutschen an ihrer Heimatregion kann sie zunächst schwer nachvollziehen.
Mascha war eines jener Kinder, die in den 90er Jahren zu Erholungsaufenthalten bei Gastfamilien nach Deutschland kamen. Dort gebar die Katastrophe eine andere Generation von »Tschernobyl-Babies«, junge Menschen, die durch den Strahlen-GAU politisch sozialisiert wurden. Auch Merle Hilbk sieht sich als eine von ihnen. Geboren 1969, gehörte sie jenem »seltsamen Zwischenjahrgang« an, wie sie schreibt, der »mental zwischen 1968 und dem ›Man gönnt sich ja sonst nichts‹-Konsumismus der Achtzigerjahre eingeklemmt schien«.
Und so schlägt die Autorin einen Bogen zwischen zwei geografischen Regionen, Ost und West, zwischen völlig verschiedenen Umgehensweisen mit dem Geschehenen. Zwischen Katastrophe und Alltag in der Zone. Zwischen Geschichte und Jetztzeit und den Kontinuitäten, die auf all diesen verschiedenen Ebenen präsent sind. Unterm Strich bleibt dabei vor allem diese Erkenntnis: An wirklicher Aufarbeitung des Geschehens in Tschernobyl fehlt es.
Merle Hilbk: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben. Eichborn Verlag. 280 S., geb., 17,95 €.
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