Eine Riesin besteigen

JURI RYTCHËU erzählt ein Liebesmärchen aus der Tundra

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Er wurde 1930 als Sohn eines Jägers auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens geboren, er starb 2008 in St. Petersburg. Der erste Schriftsteller seines 12 000-Seelen-Volkes – ein Vorzeigeliterat für die sowjetische Nationalitätenpolitik. Juri Rytchëu hat uns mit zahlreichen Büchern das Leben in der Tundra nahegebracht – realistisch und poetisch zugleich, denn das erwartet man von einem Mann, der den Mythen seines Volkes noch nahe ist.

Vorliegenden Text lernen wir nun postum kennen. Wir wissen es nicht, können es aber für möglich halten, dass der Autor ihn nicht zur Veröffentlichung favorisierte, wusste er doch genau, was er da geschrieben hatte: ein Märchen, gewiss, dem durchaus eine »Moral« innewohnt, aber eigentlich eine Geschichte, die er sinnlich ausgekostet hat. Nichts für prüde Geister.

Da sind zwei junge Männer, Gatle und Lollo, die man in der Siedlung schon »Eierträger« nennt, weil sie nur »das eine« im Kopf haben und kein weibliches Wesen vor ihnen sicher ist. Und da ist der Schamane Tschenko, der über die guten Sitten zu wachen hat. Zauberkraft setzt er ein, Gatle und Lollo zu bestrafen. Nach einer Standpauke seinerseits finden sie sich verwandelt wieder: als winzige Männlein, kaum größer als das letzte Glied des kleinen Fingers.

In einem moralisierenden Märchen wären sie nun der Lächerlichkeit preisgegeben, aber Juri Rytchëu lässt sie weiter fühlen wie Männer, auch wenn jede Mücke, jeder Luftzug sie nun umbringen könnte. Männer in äußerst gefährlicher Umgebung – er malt das aus und hat seine Freude daran, wie sie eine Frau entdecken: von Ferne schon an ihrem Geruch. Das ist keine parfümierte Schönheit, nicht zierlich-handlich, das ist eine wundervolle riesenhafte Nackte, so groß, dass Gatle und Lollo sie kaum mit ihren Blicken erfassen können. Zurückweichen müssten sie eigentlich vor ihr, doch ihre Männlichkeit verlangt, dass sie machtvoll zu ihr hingezogen sind und sie besteigen im wahrsten Sinne des Wortes. Was ein gefährliches Unterfangen ist; die Frau braucht sich nur ein wenig zu bewegen, braucht nur zu niesen ... Und wie sollen sie es überhaupt anstellen, »zur Sache« zu kommen, wo sie doch so klein sind?

Welche Begierde, welche Not, welche Beharrlichkeit. Lollo wird mit seinem Leben dafür bezahlen, Gatle wird geläutert werden, wird die Zärtlichkeit kennenlernen, wird von der (ihm längst verbundenen) Frau zu hören bekommen, dass Liebe nicht nur etwas Körperliches sein kann, dass »Herzensneigung« dazugehört. Neue Prüfungen werden ihm auferlegt werden, und er wird dennoch glücklich sein – dabei aber angstvoll zur Sonne emporschauen, die unablässig scheint, ohne sich auch nur ein Stück über den Himmel zu bewegen. Das kann nur heißen: Die Zeit steht still. Immerwährender Genuss war doch einst sein Wunsch gewesen. Und wenn man schon glaubt, er müsse sterben, wird auf wundersame Weise alles wieder gut werden, so wie man es von einem Märchen erwarten darf.

Und doch: Was den Text überstrahlt, obwohl von der Gemeinschaft geächtet, obwohl vom Schamanen bestraft, ist die jugendliche Manneslust, die zu beschreiben der alte Autor solche Freude hatte.

Juri Rytchëu: Die Frau am See. Ein Liebesmärchen aus der Tundra. A. d. Russ. v. Antje Leetz. Unionsverlag. 124 S., geb., 12,90 €.

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