Scharf beobachtete Züge

WILHELM BARTSCH: Die Kunst des historischen Romans

  • Jürgen Engler
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein herausragendes Buch! Herausragend aus der Unmenge historischer Romane mit ihrer breit ausmalenden Vergegenwärtigung von Geschichte. Erzählt wird von Johann Friedrich Meckel dem Jüngeren in Halle, Anatom, Entwicklungsbiologe und Begründer der Missgeburtenlehre. Seine Messerzüge galten der Erforschung des Lebens. Seine Begeisterung für Monstren hatte durchaus Züge einer Déformation professionelle, wie sein Bruder Albrecht August Meckel, gleichfalls Zergliederer, bemerkt, wenn er ihn in seiner »eisigen Höhe und Abgewandtheit von jeglicher zwischenmenschlicher Stallwärme« wahrnimmt. Zugleich sieht er ihn als Genie, das Erkenntnis aus genau in Augenschein genommenen Abweichungen vom Normalen gewinnt. Für seinen Sohn schreibt Albrecht August in seinem Todesjahr 1829 seine Erinnerungen an den jüngeren, berühmten Bruder auf. Die Wahl dieser Erzählerfigur ist eine glückliche Entscheidung; sie verschafft Bartsch die Freiheit, sich zwischen anschaulicher Schilderung und gedrängtem Resümee zu bewegen, zwanglos in die Handlung Kommentare und Zitate einzuflechten. Vor allem vertraut er sich der vitalen und kräftigen Sprache jener Zeit an. Das Einleitungskapitel berichtet von der Skelettierung des Vaters der Gebrüder Meckel; der »Erblasste« hatte verfügt, sein Gerippe dem Meckelschen anatomischen Museum einzureihen. Das Schlusskapitel spielt 1815 und gibt Auskunft über das weitere Schicksal der wichtigsten Figuren. Ansonsten umfasst der Handlungszeitraum die Jahre 1806 bis 1814, eine Zeit auf Messers Schneide, turbulent, zwielichtig. Geschildert wird nicht nur ein faszinierendes Kapitel Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, sondern ebenso der Befreiungskrieg gegen Napoleon und die Völkerschlacht bei Leipzig. Denn Albrecht August schließt sich den Lützowschen Jägern an, zum Unwillen des Bruders, der den Dienst an der Wissenschaft für wichtiger hält als den bei den patriotischen Buschräubern: ein Bruderzwist im Hause Meckel. So wird der Held im Roman im Doppelpack geliefert. Gewiss, das Genie ist die Bezugsgröße, aber Albrecht August geht auch seinen Weg, und nicht allein über Messerzüge, so die Moral für den Sohn, lässt sich das Leben begreifen.

Als historische Personen treten u.a. auf: Napoleon, Lützow, Friedrich Ludwig Jahn, Theodor Körner, Fouqué, E. T. A. Hoffmann, der Maler Ingres, der Biologe Cuvier. Im Rückblick können Empathie und Distanz fein dosiert werden; letztere wird zumal dem chauvinistisch tönenden Turnvater und dem Rache-Lied-Sänger Körner zuteil. Schreckliche Szenen von den Gräueln des Krieges muss der Memorierende mitteilen. Der Ledermann, der mit Zähnen vom Schlachtfeld sein Geschäft machen will, ist eine ebenso teuflische wie realistische Gestalt des aufkommenden Ego-Zeitalters. Neben dem Schauderhaften darf die Liebesgeschichte nicht fehlen, vom ambivalenten Begehren kündend. Bestechend sind Detailfülle und -treue des Panoramas – für den Erzähler gilt: Alles Vergängliche ist mehr als ein Gleichnis. Und das Gleichnishafte? Hier mag Jean Paul helfen, dem Meckel d. J. sein 1815 erschienenes Werk »De duplicitate monstrosa commentarius« widmete. Die Rede in »Dr. Katzenbergers Badereise« geht von der »monströse(n) Doppeltheit, die an Körpern ebenso selten als widrig ist, indes die häufigere Doppeltheit der Seele weit angenehmer wirkt ...« Es ist die Zwiespältigkeit des Lebens, der der Erzähler nachhängt, jeden Wahn attackierend, »der die Doppeltheit des Lebens nicht erträgt«.

Wilhelm Bartsch: Meckels Messerzüge. Osburg Verlag. 384 S., geb., 19,95 €.

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