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Der Traum von Europa
ORHAN PAMUK: »Cevdet und seine Söhne«
Als Cevdet, der Patriarch und Gründer jener Sippe, deren Entwicklung im Roman Pamuks ein buddenbrooksches Format erlangt, mit seiner Lampenfabrikation beginnt, ist das Osmanische Reich fast am Ende: Serbien gehörte mal dazu, auch Bulgarien auf der einen, Ägypten und Jemen auf der anderen Seite. Doch die Kraft, die dieses Großreich zusammenhielt, erlischt. Auch, weil die europäischen Imperien – England, Frankreich, Russland – Stücke aus dem alten Konglomerat für sich beanspruchen. Der Nationalstaat zeichnet die Zukunft, die Vielvölkerstaaten, ob Österreich-Ungarn oder der Osmanische Flickenteppich, beginnen Geschichte zu werden. Cevdet kümmert das kaum. Er ist einer der wenigen Muslime in Istanbul, der es zum wohlhabenden Kaufmann gebracht hat: Noch sind es Griechen und Juden, die den Handel beherrschen.
Ganz beglückt ist der junge Kaufmann, weil ihm die Hand einer Pascha-Tochter versprochen ist. Denn so ein höherer Beamter als Schwiegervater verspricht Beziehungen, Protektion und damit Gewinn. Während Cevdet sich auf seinen Geschäftserfolg konzentriert, ist das Land um ihn herum in Aufruhr. Das vor allem von der Armee als Schmach empfundene Zerbrechen des Reiches lässt die jungen Offiziere, die »Jungtürken«, erfolgreich gegen den Sultan putschen. Der Weg zur modernen Türkei, zum türkischen Nationalstaat, hat begonnen. Zum Vorbild aller Modernisierungen nehmen sich die Türken die Gewinner-Länder jener Zeit: Franzosen, Engländer, aber auch die Deutschen – Christen, deren Schrecken man noch vor ein paar Jahrhunderten war.
Es ist eine Mischung aus Neid und Ablehnung, die Cevdet beherrscht, wenn er über Europa und die Europäer rätselt. Einen »orientalisch rosa-lila gefärbten europäischen Traum« nennt Pamuk an anderer Stelle die von Atatürk eingeleiteten Reformen, einen Traum, der den Mittel- und Oberschicht-Türken seines großen Romans sowohl ein Gefühl der Unsicherheit als auch einen übersteigerten Nationalismus bescheren wird. So geht es mit den späten Nationen, die Deutschen sollten das gut nachempfinden können.
Brav führt Cevdets ältester Sohn die Geschäfte, gründet eine Familie der nächsten Generation und fährt im Sommer auf eine der Prinzeninseln, wie alle, die sich dort ein Haus leisten können. Der zweite Sohn und seine beiden Freunde stehen für Zweifel, die ihrer Karriere entgegenstehen und die zugleich Zweifel am Weg der Türkei sind: Heiraten, Kinder kriegen, ein Geschäft führen? Wie soll das mit der europäischen Aufklärung vereinbar sein? Da will der eine, in London ausgebildet, ein Eroberer werden, einer der etwas ganz Außerordentliches machen wird. Der andere pendelt zwischen dem Familiengeschäft und dem Wunsch nach Reformen jener Art, die mehr Teilhabe am Staat geben könnten. Der Dritte flüchtet in den Traum, Dichter zu werden. Alle drei werden scheitern und sind, aus diesem Grund, die interessantesten Figuren des Romans.
In nur zwei Generationen haben die Türken ihre tradierte, arabische Schrift zur lateinischen ändern, ihre Kleidung wechseln – vom Fez zum Zylinder, vom Kopftuch zum offenen Haar – und dem Islam einen Platz hinter dem Staat einräumen müssen. Diese Revolution von oben, diese in keiner Phase demokratisch legitimierte Modernisierungsdiktatur, prägt die Menschen in Pamuks Roman und gibt dem Leser die Möglichkeit, an dieser brachialen Entwicklung teilzuhaben. Es wird ein Maler sein, ein Künstler, mit dem die dritte Generation das Buch beschließt. Und es ist ein wieder drohender Militärputsch, der einen von Cevdets Enkeln, die, wie auch immer, die Geschäfte weiterführen, sagen lässt: »Die sollen ihren Putsch machen, wann sie wollen, aber bitte nicht heute Abend!« Und es wird Orhan Pamuk sein, der fast vierzig Jahre nach Niederschrift seines bereits 1978 vollendeten Romans einen Artikel darüber verfasst: »Wie der Traum von Europa verflog.« Denn die Eliten, die der große türkische Literat auch hier beschreibt, sind anderen gewichen. Und das kräftige Selbstbewusstsein der Neuen setzt türkische Ziele, nicht französische oder deutsche.
Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne. Roman. A. d. Türk. v. Gerhard Meier. C. Hanser. 672 S., geb., 24,90 €
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