Schöner Kitsch

Axel Fenn forscht auf einem ästhetisch stark umstrittenen Gelände

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Axel Venn – entspanntes Verhältnis zum Kitsch
Axel Venn – entspanntes Verhältnis zum Kitsch

In Marburg geboren, an der Folkwangschule in Essen ausgebildet, in Berlin zu Hause, aber Professor für Farbdesign an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim, ist Axel Venn (67) geschätzter Fachmann für Farbe, Oberfläche, Trend und Design. Für ihn machen sich Studenten selbst aus Taiwan und Korea nach Deutschland auf. Der Autor des »Farbwörterbuch« (Callwey Verlag 2010), des ersten Lexikons zur Farbigkeit der Begriffe, traut sich aber auch an ein Thema, das weithin tabu ist: der Mensch und seine Schwäche für Kitsch ...

Das Thema ist ein Minenfeld. In ihm ist schon mancher verunglückt, hat entgeisterte Blicke, Verachtung geerntet. Kitsch darf auf Verständnis, Billigung gar, nicht hoffen. Thomas Gottschalk ficht solche Ächtung so wenig an wie Axel Venn. Als der Wetten-dass-ler, ein Flaneur wie der Stilprofessor, neulich aus Kalifornien auf Heimatbesuch in seine renovierte Kirche ins fränkische Kulmbach kam, bedauerte er, dass die bunten Fenster aus der Kindheit gegen neue ausgetauscht worden waren. »Das war ein Fehler! Die kitschigen Dinger hatten mich frommer gemacht«, erklärte der Entertainer, von dem man spätestens seit seinem Fernsehstreit mit Marcel Reich-Ranicki weiß, was für ein Kulturkopf der bunte Vogel ist.

Auch Professor Venn hat keine Angst, sich zu Kitsch zu bekennen. »Es gibt Kitsch, der fürchterlich ist. Aber es gibt auch welchen, der uns am Herzen liegt. Kitsch ist kein Zufall, sondern Notwendigkeit. Ich habe oft erlebt, dass Menschen, die keinerlei Kitsch dulden, auch keine Kunst lieben.« Dem Thema offen zu begegnen, »Kitsch manchmal auch ein bisschen zu verfallen, darin sehe ich eine Therapie gegen überintellektuelle Betrachtung der Welt. Wir nehmen die Welt ja zuallererst emotional und nicht analytisch wahr. Kitsch erlaubt eine zarte Wahrnehmung. Er tut uns gut – jedenfalls solange er nicht als taktisches Mittel eingesetzt und Kitsch nicht vermarktet wird.«

Wo sitzen die größten Kitsch-Vermarkter?

Darauf gefasst, dass der Professor Privat-sender oder Dschungelcamp anführt, nennt er dieses Triumvirat: »BILD, IKEA und das öffentlich-rechtliche Fernsehen sind die größten Scheinheiligen. Denn selber verschleudern alle drei qualitätsferne Gefälligkeitsprodukte: geistlos, gestaltlos, kreativlos und somit sinnlos. Sie sind mitverantwortlich, dass der Seelenstreichler Kitsch gesellschaftlich tabuisiert wird. Das macht uns ärmer, weil man sich mit Tabus in aller Regel weiterführenden Erkenntnissen verschließt.«

Höre ich recht, Professor? »Weiterführende Erkenntnisse«? Aus Gegenständen, die auf geschmacklos empfundene Weise gestaltet sind, die einen künstlerischen Wert vortäuschen, wo er nicht vorliegt? Worin, bitte, besteht die »Erkenntnis« einer kitschigen Vase oder Leuchte? Worin der Wert einer rührseligen Inszenierung, die unecht Gefühlstiefe vorgaukelt? Axel Venn bestreitet die Gratwanderung nicht. »Pompe fu-nèbre – der Kitsch des Leichenbestattergepränges bewegt sich immer zwischen Lächerlichem und Erhabenem. Er beschreibt aber immer auch Empfindungen, die allzu menschlich sind.«

Was aber ist überhaupt Kitsch und wie zeigt er sich etwa im Bauen und Wohnen? Venn nähert sich dem Biest, dem er manche Schönheit abgewinnt, behutsam. Kitsch drücke »stets Zeitgeist-Meinungen aus«. Er erinnert daran, dass es gerade mal 50 Jahre her ist, »als im deutschen Städtebau reihenweise wunderschöne Jugendstilfassaden entfernt wurden, weil sie gnadenlosen Form-follows-function-Architekten ein Dorn im Auge waren«. Er nimmt solchen Bilderstürmern bis heute übel, dass sie oft mit dem Kitsch-Vorwurf hantierten. »Er war und ist ein Vorwand, ungeliebte historische Erscheinungen auszumerzen. Die Kitsch-Anklage wird schnell zum Todesurteil, das ewige Puristen über alles Verspielte fällen.«

Hinter den Fassaden, im Innern von Haus und Wohnung, dort also, wo die wahre Heimat des Kitsches liegt – woran ist er zu erkennen, was ist seine Gestalt, was sein Sinn? Der Professor gerät in Verzückung ob »der liebreizenden Formen und erwärmenden Bedeutungen«, die er dort erlangen kann. »Kitsch in Haus und Wohnung sind Elemente, die ein erlebtes Gefühl nachvollziehbar machen und die Erinnerung daran wachhalten.« Woran denken Sie? »Sammeltassen aus familiärer Vorzeit, Silberlöffel von der Oma, allerliebste Glanzbilder, denen man in der Kindheit begegnete – das alles sind Manifeste von Erlebnissen und Erinnerungen an Orte und Anlässe. Da wir dafür Symbole brauchen und sie gern in unserer Nähe haben, ist gegen das, was Kitsch heißt, kein Kraut gewachsen.«

Wegen der innigen Beziehung, die der Mensch zu seinen Erinnerungen und ihren Symbolen pflegt, räumt Venn gern ein, dass seine Haltung zum Kitsch »etwas fahrlässig« sei. »Das klingt bei Ihnen aber nicht nach Reue.« Der Professor aalt sich: »Nein, diese Fahrlässigkeit halte ich für einen Quell der Freude, der Behaglichkeit und des Genusses.«

Auch die Trost-Qualitäten von Kitsch will er beachtet wissen. »Der Kitsch-Vorwurf ist ja in der Regel ein Werturteil von außen, das das innige Verhältnis einer Person zu ihren Erinnerungen ignoriert oder diffamiert. Kitsch verzichtet auf Gestaltungscodices. Er ist nichts Ideologisches. Kitsch trägt in sich zugleich Unfertiges und Überfertiges. Kitsch kommt von Herzen. Deshalb sind Menschen, die Kitsch verachten, nach meiner Erfahrung oft nicht bloß Kunstverächter. Sie sind auch Misanthropen statt Philanthropen – Menschen nicht zugetan, sondern ihnen abgeneigt.«

Welches Verhältnis hatte das Bauhaus zum Kitsch? War dessen Absage an Kitsch nicht sogar gründungskonstituierend? Der Professor schüttelt den Kopf. »Nein, das waren die Werkbündler. Der Deutsche Werkbund wurde 1907 mit dem Ziel der Veredlung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk gegründet. Er gab Impulse zur Industrie- und Baukultur seiner Zeit und hatte allgemeine Ziele in Lehre und Forschung. Sie waren meines Erachtens die besseren Baumeister als die Bauhäusler, auch wenn letztere dann viel berühmter wurden.«

Doch der Professor tröstet sich. »Mit dem Bauhaus ist es ein wenig wie mit Helmut Schmidt. Der Altkanzler war nie so gut wie heute, da er quasi heilig gesprochen wird. Dabei war er nie weise, und er ist es auch heute nicht. Aber Kitsch begleitet uns eben überall.«

Wie tröstlich.


Die DDR und der Kitsch

»... Geschmackloser Kunstersatz, dessen Kennzeichen billige Nachahmung, Glätte, falsches Pathos, Sentimentalität, Anspruchslosigkeit und scheinbare Volkstümlichkeit sind. Durch kapitalistische Massenproduktion erzeugt, findet der K. seit der Jahrhundertwende (zum 20. Jahrhundert – d. Red.) Verbreitung, wobei er sich auf echte Bedürfnisse nach Harmonie und menschlicher Wärme stützen kann. Durch Erzeugung sozialer Illusionen trägt er zugleich zur Stabilisierung des imperialistischen Systems bei.«
(DDR-Handlexikon in 2 Bänden, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1982, Band 1:

Venns Kitsch-Beispiele

Schön, weil authentisch:
1. Selbst gesammeltes Strandgut von Ost- und Nordsee in der Vase
2. Virtuelles Kaminfeuer (»die hohe Form des Kitsches«)
3. Tische und Hocker aus groben Holzklötzen (»archetypischer Kitsch«)

Gruselig, weil nicht authentisch:

1. Kerzenleuchter aus mallorquinischen Dachpfannen
2. Fette Buddhas auf weißem Kies in sächsischen Gärten
3. Fernsehabende im Ohrensessel mit Volksmusik, Preisverleihungen und Neujahrsansprachen

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