Die Katastrophe – bester Lehrer?

Fukushima und was unser Bewusstsein zu Einsichten bewegt:

  • Lesedauer: 5 Min.

PRO

Von Hans-Dieter Schütt

Das Reaktorunglück von Fukushima hat das Gemüt der Welt erschüttert. Erweist sich nun die Katastrophe einmal mehr als wahrer Lehrmeister der Menschheit? Wie in so vielen Dingen. Im Unglück scheint nach Lage aller Erfahrungen die einzige Chance zu liegen für Umkehrungen, Wenden, Zäsuren. Besinnung durch Brüche. Freiheit durch Verlust. Läuterung durch Schmerz. Vorrangig die Auslöschung reißt Gedächtnis auf für das Wahre, Gute, Schöne. Erst die sehr bittere Wahrheit aus dem Mund eines Arztes lässt uns, angesichts gefährdeten Lebens, den Baum vorm Fenster, den blauen Himmel und das Windrauschen der Wiesengräser plötzlich als ein Wunder wahrnehmen – das wir bis eben übersahen, weil es so selbstverständlich schien. Immer muss uns Vergänglichkeit und Verlust schmerzvoll treffen, damit wir endlich eine größere Intensität des Fühlens entwickeln können.

Noch nie ging eine Politik, eine Gesellschaft prophylaktisch, also unpanisch und freiwillig, gar freudig auf Forderungen zu, die mit Umkehr, Gierdrosselung, mit Ent-Sorgung gefährlicher Potenziale zu tun hatten. Einzig Planungen der Vernichtungsindustrie beherrschten seit jeher den langfristigen Ausbau, die produktiv vorausschauende Anpassung an zu erwartende Bedingungen des nächsten Krieges. Anders gesagt: Die Vorbereitung von Katastrophen geschieht stets lernwilliger und -fähiger als deren Verhinderung.

Die Geschichte der Kommunikation ist eine Geschichte der Warnungen, die niemand hören wollte. Ob es sich nun um Klima, Kernkraft, Krieg oder andere Formen der Natur- und Menschenverknechtung handelte: Das Unglück verhindernde »Vorher« ist keine Lehrzeit in der Schule des Lebens, erst das »Danach« findet Schüler, deren Aufnahmeprüfung freilich im Nachweis genügend großer Erschütterung bestehen muss.

Der Mensch ist, wie er ist; Günter Gaus sprach vom alten Adam und der alten Eva. Änderte sich der Mensch als Gattungswesen wirklich gern zum Besseren, dann wäre zum Beispiel die gesamte antike Welt von Homer bis Horaz, von Thales bis Marc Aurel für uns ein Buch mit sieben Siegeln: längst erledigt, längst überwunden. Doch ist jene Welt nach wie vor das Lexikon, das auch uns erklärt. Es gilt die Wahrheit ältester Dichtungen. Iphigenie wohnt im Nachbarhaus, sechster Stock. Richard III. gibt dem »Spiegel« ein Interview. Alles beim alten.

Von sich aus verschleppt sich der Mensch nur immer in neue Verstrickungen, unterm Regime einer fatalen Koalition aus verfluchten Optimisten, unbelehrbaren Kühnheitspredigern, unkorrigierbaren Technokraten, verblendeten Bastlern in Kabinetten und Laboratorien und den Hybriden eines unersättlichen Hangs zum Endverbrauch. Erst Feuer macht alle zu gebrannten Kindern.

Einzig die Katastrophe also vermag wie eine Sonde ins unbelehrbare Bewusstsein vorzudringen und dort bekehrende Einsichten zu entzünden. Um den Stand unserer Unbelehrbarkeit auf lebbarem Niveau zu halten. Mehr ist nicht zu verlangen. Es gehört freilich zu den großen Traurigkeiten, dass auch das katastrophische Lernen von entsetzlicher Kurzfristigkeit gezeichnet ist. Das Gedicht zur Lage stammt von Günter Kunert. »Über einige Davongekommene« schrieb er: »Als der Mensch/ unter den Trümmern/ seines/ bombardierten Hauses/ hervorgezogen wurde,/ schüttelte er sich/ und sagte:/ Nie wieder.//Jedenfalls nicht gleich.«

Kontra

Von Gabriele Günter

Die gern und vielfach benutzte Behauptung, Hoffnung stürbe zuletzt, ist eine Phrase geworden. Ist aber doch weit sympathischer als Heiner Müllers radikaler Aphorismus, er benötige überhaupt keine Hoffnung, denn er habe schließlich genügend andere Probleme. Als sei Hoffnung, diese Technik, mit der unser betrübtes Bewusstsein seine harten Bedrückungen übersteigt, eine zusätzliche Last. Als sei Hoffnung bloß ein anderes Wort für Selbsttäuschung.

Die These, eine Katastrophe sei unser fürsorglichster Erzieher zur Mäßigung in den schlimmen Dingen der ökonomischen, wissenschaftlichen, politischen Praxis – sie beleidigt die Wirklichkeit, zumal die bundesdeutsche. Denn, wie der Umwelthistoriker Joachim Radkau in der jüngsten Ausgabe der Hamburger »Zeit« feststellt: Die ökologische Revolution habe den Anstoß einer katastrophischen Erfahrung nie benötigt, um ihr Ethos zu entwickeln. In Deutschland habe von 1975 an vor allem das rein hypothetische Risiko der Kernkraft die Umweltbewegung geprägt. Die ökologische Revolution sei weltweit losgebrochen, »ohne dass ihr eine Katastrophe vorhergegangen wäre, die das Bewusstsein bestimmt hätte«.

Den Anstoß, so Radkau, hätten viel mehr »neuartige Zukunftsrisiken« gegeben. Deshalb trägt die Umweltbewegung weltweit den Charakter einer neuen Aufklärung, und das Grundprinzip dieser Aufklärung ist die große, ja naive Hoffnung, der Mensch käme nicht vorrangig über den Schock der ihn überfordernden Sorge zum besseren Handeln, sondern aus ganz anderem Grunde: Er weiß, wie schön das Leben ist. Dies ist es, was ihn wesentlich antreibt, nicht die Angst. Ihn treibt an, dass die Dankbarkeit für die Existenz größer ist als alle Furcht vor den Gefährdungen dieser Existenz. Wer nur immer die Katastrophe als Arzt anruft, der vergisst eines Tages, warum und wofür eigentlich Heilung gewünscht wird. Die schlimmste Katastrophe wäre die bitterböse Einsicht, wir selber seien diese unaufhaltsame Katastrophe.

Sicher, wer auf der Höhe der Zeit lebt, ist vom Schrecken kontaminiert, und wer heute Prophet des sich schnell mehrenden Schlimmen sein will, muss nicht mal bis drei zählen können. In Folge dessen hat doch die Pädagogik der Katastrophe längst an Wirkung verloren. Katastrophen stärken letztlich nur ein zynisches Bewusstsein der Sinnlosigkeit jeglichen Mühens um bessere Verhältnisse.

Wer die Katastrophe zum besten Lehrer erklärt, sollte es nicht tun, ohne sein Alter zu gestehen. Denn diese These bedarf keines Mutes, keiner besonderen Kraft zum Realismus, sondern nur einer Gewissheit, bereits Kontakt mit dem Ende aufgenommen zu haben. Wer die erhellende Katastrophe predigt, wer in der Explosion (auch von Fukushima) die hilfreiche Warnleuchte sieht, wer die Warnkatastrophe als die eigentliche und einzig wirksame Katastrophenwarnung nimmt, der ist glaubwürdig doch nur, wenn er die Konsequenz dieser Behauptung mitdenkt: Erst der reale Weltuntergang wäre in dieser Logik die vollkommene Warnung vor dem Weltuntergang, und also nur »in glänzender Weltvernichtung hätte die Menschheit demnach ihr Lernziel erreicht« (Peter Sloterdijk).

Das also wäre die Pädagogik des Katastrophischen? Dann doch lieber das alte Hausmittel der stockenden, stolpernden Hoffnung.
Collage: Yvonne Rother
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