Warum nur fällt uns heute alles so leicht?
Heute wird der Schauspieler Bruno Ganz siebzig
T heater wird er wohl nicht mehr spielen, der Unzeitgemäße. Er schaut hinweg über das, was ihn seit gewisser Zeit übergeht. Er passt nicht mehr. Deshalb passt er genauer denn je auf, was er tut. Man könnte bei diesem Bühnengroßen, der zum Filmhäufigen wurde, an den »Ödipus auf Kolonos« denken – Sophokles, übertragen von Peter Handke, an Wiens Burg gespielt von Bruno Ganz: Wie da ein blinder Geschundener das letzte Kapitel Lebens-Kunst aufschlägt! Denn es ist eine Kunst, mit dem Leben aufzuhören, das Hinübergehen zu betreiben. Ganz spielte mit märchenhafter, versteinernder Grazie. Die greise Abschiedsstunde wie der Moment vor einer Geburt – paradox. Wo etwas paradox wird, ist es einer Wahrheit sehr nah.
Auf exemplarische Weise widerspiegelt die Entwicklung von Ganz bundesdeutsche Theatergeschichte. Ein Schweizer, ein Arbeiterjunge, eines Tages in Bremen, beim jungen Rebellen Peter Zadek, beim fordernden Prinzipal Kurt Hübner. Franz Moor, Hamlet, Macbeth, schließlich Peter Steins klassisch-antiautoritärer Tasso, Prinz von Hamburg. Dann Klaus Michael Grübers Empedokles. Später noch einmal Hamlet, der Gynt, an Berlins Schaubühne. Ästhetische Radikalität wurde an diesem berühmten Haus zum natürlichen Ausdruck und zum Antrieb einer kollektiven Veränderungshoffnung. Inmitten der dann wachsenden politischen Illusionslosigkeit der Achtundsechziger gingen gebrochenes Weltempfinden und Kunstgefühl gerade in Ganz eine Liaison ein – die menschlicher Wahrhaftigkeit näher kam als der Versuch, mittels Theater einzig nur Welterkenntnis und -verbesserung zu betreiben. »Wir waren eine Generation, die sich daran verschliss das Eigene zu formulieren. Dann reichte es nicht zur Weitergabe.«
Sehr lange danach, über zwei Jahre, war Ganz der Faust in Peter Steins Originalfassung beider Teile. Ein typisches Unternehmen für ihn: Immer suchte er sich Theateraufgaben im Bannraum großer Sinnesverwandtschaften. Irgendwann dann das Bekenntnis, eigentlich habe er mit dem Faust doch nichts zu tun. Schmerzende Ehrlichkeit gegenüber Stein, dem er also noch einmal diszipliniert Lebenszeit hingegeben hatte. Treue tut weh. Eines Tages dann meinte Stein sagen zu müssen, er sei endgültig fertig mit diesem Schauspieler.
Geboren 1941 in Zürich, verließ Ganz das Gymnasium kurz vor dem Abitur, ließ sich zum Schauspieler ausbilden, kam 1952 nach Deutschland. Göttingen, Bremen, München, Berlin. Filme bei Wenders, Schlöndorff, Rohmer, Herzog, Handke. Der leise, traurige, graziöse Kellner Fernando in »Brot und Tulpen« von Silvio Soldini. In Erinnerung auch der Privatdetektiv, den Martin Walser erfunden hatte: »Tassilo – ein Fall für sich«; schon der Titel der TV-Reihe verwies auf die Doppelbödigkeit des Nicht-Helden, eine Art Provinz-Columbo, dem Ganz als einen charmant Ungeschickten spielte, mit skurrilem Witz, verstrickt in den unlösbaren Fall namens Leben.
Und: Er war im »Untergang« Hitler. Ganz, der Wägende, hat da erfrischend natürlich gehandelt, nämlich mit der Anmaßung einer Neugier, ohne die sein Beruf nicht denkbar wäre: das Unspielbare spielen, das Unbegreifliche greifen wollen. Heilig sei der unheilige Grundsatz des Komödiantentums: Führe mich in Versuchung!
Wenn man diesen Schauspieler agieren sieht, dann zieht ein wohltuendes Bedrängen ins Gemüt. Es ist etwas Zurückversetztes, etwas Fragendes, das er ausstrahlt, und die Fragen lauten: Warum fällt uns heute alles so leicht? Warum ist unsere Zunge in allem so gelöst? Warum müssen wir alles immer sofort verstehen, verwerten, vernutzen? Und warum müssen wir alles und jeden auf unser Niveau ziehen, und warum merken wir nicht beschämt, dass vieles, was wir zu uns heranziehen, doch bloß ein Herunterziehen, geradezu ein Herabwürdigen ist? In Ganz’ Gesicht meint man die Gewissheit zu spüren, dass Poesie gegen jede (jede!) geschichtliche Erfahrung spricht. In seinem künstlerischen Wesen schlug sich eine Geschichte der Traurigkeit nieder, die er nicht aufzugeben bereit ist.
Mit gezähmtem Spiel, gebundenem Sprechen (ist er nicht ein Sänger griechischen Sinns?) setzt er sich still, aber entschieden gegen einen Menschentypus, der die Zeit bevölkert. Botho Strauß, Schauspielers Bruder im Geiste, dessen Odysseus er in München war (»Ithaka«), dessen Titus Andronicus (»Schändung«) er in Bochum spielte – der Dichter Strauß nennt diese Zeittypischen eine »Schicht von Nutzern und Netzwerkern, zumeist anästhetischen Gemütern, die keinen Sinn haben für das, was außerhalb von Informationen liegt«.
Hölderlin, Kleist. T.S. Eliot – Ganz geht nicht aufs dichterische Wort ein, er geht ins Wort ein. Und wer da fragen möchte, wie das so große Wesen Mensch in das so kleine Wort gelangen kann, dem muss geantwortet werden: Wer sich allen Ernstes größer dünkt als jenes Wort, von dem hier die Rede ist, dem ist nicht zu helfen. Der gehört wohl zu jenen Geschmeidigen, von denen uns Bruno Ganz wegspült, wegspielt, hinein in etwas Heiliges. Fernes, neues Ufer oder weiter Ozean, wer weiß. Kunst gegen Leute, besser: tiefstolz abseits von Leuten, nach Adorno, »den metallenen Glanz eines Septembergedichts mit einem Büchsenöffner aufzureißen versuchen, um den vermeintlichen Inhalt zu entdecken. Genauso gut könnte man versuchen, mit einer Sense die Abendröte aufzuschneiden, um dahinter den Himmel zu entdecken.« Heute wird Bruno Ganz siebzig. Fotos: dpa (4)
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