Apfelkuchen und Maschen-Ambulanz
Die »Kantine Heimwerk« in Essen ist gut besucht – in Deutschland wächst die Zahl der Strickcafés
Köln/Essen. Elf Jahre lang hat Nicola Baumann am Essener Theater und an der Oper Kostüme maßgeschneidert – dann hatte sie genug vom Premierenstress. Die Gewandmeisterin kündigte und setzte auf einen neuen Trend. »Immer mehr Leute haben mich auf Handarbeit und Nähkurse angesprochen, die wollten für ihre Kleidung etwas anderes als quadratisch, praktisch, schnell«, erzählt die 42-Jährige. Vor einem halben Jahr machte sie aus der sprunghaft gestiegenen Nachfrage nach ausgefallener Handarbeit eine Geschäftsidee und gründete im Essener Süden ihre »Kantine Heimwerk«.
Dort steht Baumann jetzt täglich mit weißer Bluse und Baumwollschürze, hinter ihr ein von Hand aufgearbeitetes weißes Küchenbüfett voll mit bio-zertifizierten Wollknäueln. Es gibt Milchkaffee, selbst gebackenen Apfelkuchen, eine »Maschen-Ambulanz« für Handarbeitsunfälle und zweimal die Woche einen Nähkurs zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO).
»In der Schule wird das Stricken und Nähen oft nicht mehr richtig vermittelt«, sagt die ausgebildete Schneiderin. Junge Mütter wollten aber wieder hochwertige individuelle Kleidung. »Nähkurse könnte ich rund um die Uhr geben.« Nach dem Vorbild von »Strickpartys« im Berliner Kiez will Baumann demnächst auch in ihrem Laden einmal pro Monat mit Musik und Nadelklappern aufwarten.
Ruhe und Erfolgserlebnis
Von der Oma-Ecke hat sich die Handarbeit nach ihrer Beobachtung in Deutschland seit ein bis zwei Jahren meilenweit entfernt – auch dank Trendsettern aus den USA oder London. Auch Prominente setzen sich seit einiger Zeit mit Handarbeit in Szene. Kein Wunder also, dass auch Designshops das Thema »Selbermachen« entdeckt haben. Bei »Petra Teufel« in Hamburg gibt es seit einiger Zeit ein Strickset zu kaufen – komplett mit Anleitung, Nadeln und Wolle, es kann gleich losgeklappert werden. »Das wird sehr gut angenommen«, sagt Storemanagerin Judith Klar. Käufer seien junge Mädchen genauso wie Mütter oder Designstudenten.
»Der Trend geht dahin, dass man sich wieder mehr auf Dinge besinnt, die in Vergessenheit geraten sind«, meint Klar. »Beim Stricken kann man zur Ruhe kommen und hat obendrein ein Erfolgserlebnis.« Aus gängigen Frauenzeitschriften waren Schnittmuster und Strickanleitungen noch vor wenigen Jahren nahezu verschwunden. Jetzt gibt es Neugründungen wie die 2009 ins Leben gerufene Münchner Mode- und Do-it-yourself-Zeitschrift »Cut«. Handarbeitsfans tauschen sich in einer wachsenden Zahl von Internetblogs aus. Der vor gut vier Jahren gegründete Online-Marktplatz DaWanda, auf dem mit Selbstgemachtem gehandelt wird, hat inzwischen eine Million registrierte Mitglieder.
Suche nach Individualität
»Es gibt einen Bedarf nach Individualität statt nach Massenware. Man möchte etwas Besonderes haben, was nicht jeder hat«, sagt DaWanda-Sprecherin Ina Froehner. Außerdem habe beim Thema Selbstgemachtes im Laufe der Zeit eine Art Werteverschiebung stattgefunden. »Früher hat die Mutter oder Oma aus Kostengründen gestrickt oder genäht. Heute gilt es eher als Luxus, wenn man für sich oder für andere etwas selber macht«, erläutert Marta Olesniewicz von »Cut«.
Der anhaltende Trend soll sogar eine neue Kette mit künftig 25 »Näh-Akademien« in Deutschland, Österreich und der Schweiz tragen. Unter dem Namen »Zic'n Zac« hat im Oktober 2010 in Essen die erste Filiale samt Café eröffnet. Um die einhundert zahlende Kunden – viele junge Frauen zwischen 18 und 24 – kommen täglich in den Laden. Es gibt Nähkurse für Anfänger, Fortgeschrittene und für Spezielles – etwa Dessous. Der entsprechende Slogan: »So sinnlich kann Nähen sein.«
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