Ein Aufklärer und Moralist
Alfred Grosser über die Aufgabe der Pädagogik, den Nahost-Konflikt, die Deutschen und die Empörung der Armen weltweit
ND: Herr Grosser, man kennt und schätzt Sie als scharfsinnigen politischen Analytiker. Sie selbst nennen sich Moralpädagoge. Mit Betonung auf Moral oder Pädagoge?
Grosser: Wenn ich Artikel oder Bücher schreibe, so ist es im Sinne der Aufklärung meiner Leser. Das ist die Aufgabe der Pädagogen. Ich will aber nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Moral.
Liebäugeln Sie da mit dem geistigen Wegbereiter der Großen Französischen Revolution, dem Pädagogen und Moralisten Jean-Jacques Rousseau?
Nein, nein, nein.
Rousseau schrieb einen großen Erziehungsroman, »Émile«, steckte seine Kinder indes ins Heim. Wie haben Sie sich der Erziehung Ihrer Söhne gestellt? Mit Erfolg?
Ich weiß nicht. Mir war es stets wichtig, dass sie moralisch und politisch immer gut eingestellt waren. Sie sind weder nach ganz links noch nach rechts abgeglitten. Zwei sind auf der Seite der Geldverdiener gelandet, zwei sind Universitätsprofessoren: Jura und Geschichte. Der Jurist betätigt sich zudem als Barocksänger.
Hat er die Begabung von Ihnen?
Nein. Von mir kann er nur die Liebe zur Musik geerbt haben.
»Weder nach ganz links noch nach rechts« – ist für Sie die Mitte moralisch? Was verstehen Sie unter einem moralischen Leben?
Dass man zunächst versucht, andere zu verstehen, sich dann erklärt und gegebenenfalls auch gegen sein Publikum spricht. Zum 40. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges sprach ich in einer Kölner katholischen Kirche und beim DGB in der Westfalenhalle in Dortmund. Die Katholiken erinnerte ich an die Kumpanei ihrer Bischöfe mit den Nazis, beim DGB erinnerte ich an die Kapitulation des ADGB am 1. Mai 1933 als »Tag der nationalen Arbeit«. Das ist Pädagogik. Demagogisch und feige wäre es gewesen, wenn ich bei den Katholiken über die Säumnisse der Gewerkschafter und bei den Gewerkschaftern über die Schuld der Kirche geredet hätte.
Ist Ihnen schon mal vorgeworfen worden, Moralapostel zu sein?
Nein. Aber zu predigen, ja. Diesen Vorwurf nehme ich gern an.
Moralische Appelle helfen leider wenig – beispielsweise im Nahost-Konflikt. Oder doch?
Ich plädiere dafür, dass Israel endlich anerkennt: Gewalt ist keine Lösung. Gewalt ist das Problem. Ich bedauere, dass es keine offene Debatte in Deutschland gibt, man sich von Israel erpressen lässt.
Sie meinen, mit der Antisemitismus-Keule?
Als ich 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, ging ich in meiner Dankesrede auf die Berufsverbote ein. Da hieß es, was ich gesagt habe, hätte auch ein Kommunist sagen können. Da habe ich gesagt: »Na und. Wenn ich warte, bis niemand von der ›falschen‹ Seite gut findet, was ich sage, bleibt es ungesagt.« Ich kritisiere Israel aus Sorge um Israel. Dazu fühle ich mich durch meine vier Großeltern und meine Eltern, die nach Hitlers Definition Juden waren, verpflichtet. Menschenrechtsverletzungen, die von Juden begangen werden, sind genauso anzuprangern wie Verbrechen anderer Menschen. Während des Algerienkrieges habe ich mich als Franzose verantwortlich gefühlt, gegen die Folter und die Lager zu protestieren.
Wie kann die Feindschaft in Nahost überwunden werden?
Nicht, indem man versucht, so viel Palästinenser wie möglich zu vertreiben, ihre Dörfer und Häuser zerstört und immer mehr Siedler auf besetztem palästinensischen Gebiet bauen lässt. Wenn das so weitergeht, bleibt gar kein Platz mehr für die Palästinenser.
Gewalt geht aber auch von palästinensischer Seite aus.
Ich habe nach dem Zweiten Weltkrieg gefordert: Wir müssen auch über Dresden und Hamburg und über die Vertreibungen reden. Denn wir können von keinem Deutschen verlangen, das Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu erkennen, wenn wir nicht sein Leiden anerkennen. Ebenso kann man keinen jungen Palästinenser davon überzeugen, wie furchtbar ein Attentat ist, wenn man nicht Mitgefühl hat, wenigstens ein Minimum, mit dem großen Leiden in Gaza und in den besetzten Gebieten. Alle israelischen Regierungen bisher zeigten keinerlei Mitgefühl.
Auch Ihnen ist schon jüdischer Selbsthass vorgehalten worden.
Ja. Und da verweise ich stets auf das Alte Testament, in dem es heißt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich liebe mich so sehr, dass ich die Nächsten sehr intensiv lieben muss. Ich bin Franzose, das heißt, ich leide an Selbstliebe – und Selbstüberschätzung. Wenn ich ein Deutscher wäre, würde ich im Selbstmitleid groß sein.
Die Deutschen sind ein sich selbst bemitleidendes Volk?
Ja, es wird sehr viel und oft gejammert. Man wagt es nicht, über den eigenen Schatten zu springen. Das trifft auch auf Israel zu.
Bundespräsident Horst Köhler hatte vor der Knesset in Jerusalem 2005 gesagt, aus der deutschen Vergangenheit ergäbe sich die Pflicht, auf aller Welt für diejenigen einzutreten, die entrechtet sind. Ich dachte, er sprach von den Palästinensern. Aber das war nicht der Fall. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützt zumindest untergründig Initiativen auf palästinensischer Seite wie den Aufbau von Schulen. Aber offiziell versagt Europa. Es lässt geschehen, dass alles wieder zerstört wird, was mit europäischen Geldern in den Palästinensergebieten oder im Südlibanon aufgebaut worden ist, ob Elektrizitätswerke oder Krankenhäuser. Einrichtungen, die nicht militärischen Zwecken dienen.
Um noch einmal auf das Selbstmitleid der Deutschen zurückzukommen: Worin äußert sich dieses, außer in präsidialer Rede?
Zum Beispiel in der Ausstellung in Berlin »Hitler und die Deutschen«. Ich war empört: Sie war total einseitig. Hier wurde die These der Kollektivschuld kolportiert. Außer der Verschwörung vom 20. Juli kam der Widerstand nicht vor, kein Wort zum Beispiel über den kommunistischen Widerstand.
Es wurden nur die Hitler zujubelnden Deutschen gezeigt.
Ja. Aber das waren nicht die Deutschen schlechthin. Die Deutschen hat es nie gegeben.
Deshalb konnten Sie sich nach dem Krieg für die deutsch-französische Versöhnung einsetzen?
Ich mag das Wort Versöhnung nicht. Ich hatte mich nicht zu versöhnen mit dem ersten Nachkriegs-Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Walter Kolb, den ich 1947 besucht habe. Er kam aus Buchenwald. Uns verband die gemeinsame Aufgabe, die deutsche Jugend für Freiheit und Demokratie zu begeistern. Und ich habe 1990 auch die deutsche Wiedervereinigung begrüßt ...
Im Gegensatz zu Ihrem Präsidenten François Mitterrand.
Er hat sie auch begrüßt, nachdem seine Bedingungen erfüllt waren: Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und Einbindung Deutschlands in Europa. Damit dieses größere Deutschland nicht wieder ausflippt. Jedenfalls habe ich damals in der Alten Oper in Frankfurt gesagt: Zum ersten Mal dürfen alle Deutschen in Freiheit leben.
Haben Sie keine Angst, dass die Deutschen wieder ausflippen, übermütig werden könnten?
Nein, sie werden nicht übermütig. Kurt Biedenkopf sinnierte jüngst öffentlich über die Frage »Brauchen wir ein Jahrhundert der Bescheidenheit?«
Ausgerechnet der einstige, unbescheidene König von Sachsen?
So ist es. Ich lobe die Bundesrepublik für ihre Bescheidenheit nach 1990 und sage: Alles hat aber auch seine Grenzen. Deutschland darf sich heute wieder freuen, wie bei der Fußballweltmeisterschaft 2006. Was war denn schlimm am Fahnenschwenken? Schwarz-Rot-Gold ist die Fahne vom Hambacher Fest 1832, die Fahne der Revolution von 1848. Man soll nicht übertrieben auftreten, nicht Sarkozy nachahmen. Das wäre schlimm. Aber man darf stolz sein – nicht obwohl man Deutscher ist, sondern weil man Deutscher ist. Die Deutschen haben viel geleistet, in der Geschichte und in der jüngsten Vergangenheit. Ich bin auch der Überzeugung, dass Deutschland in der Welt Verantwortung übernehmen muss, das schließt militärische Mitverantwortung ein. Ob der Krieg in Afghanistan nun richtig oder falsch war, ist eine andere Frage. Aber, wo die Freiheit von Menschen bedroht ist, darf sich Deutschland nicht raushalten.
Wollen Sie mir nicht eine Frage zum Kommunismus stellen? Sie sind doch vom »Neuen Deutschland«.
Das kein kommunistisches Blatt ist. Zudem: Ich glaube zu wissen, wie Sie zum Kommunismus stehen.
Die schwierigste Rede, die ich je hielt, hatte ich in Weimar vorzutragen, und zwar in der Herderkirche, am Rande einer Tagung über Buchenwald, wo auch noch nach 1945 Abertausende Menschen eingesperrt waren und viele gestorben sind – im Namen des Antifaschismus, was gar nicht stimmte. Ich brachte es nicht fertig, den Überlebenden des sowjetischen Internierungslagers den kommunistischen Widerstand von 1933 bis 1945 nahezubringen. Und die kommunistischen Überlebenden des Konzentrationslagers wollten nicht wahrhaben, was nach 1945 dort geschehen ist.
Im Gegensatz zur Bundesrepublik werden in Frankreich kommunistische Résistancekämpfer hoch geschätzt und geehrt ...
Ja, und ein bisschen zu sehr. Es stimmt, der Umgang mit Kommunisten ist in beiden Ländern sehr unterschiedlich. Unter anderem, weil in Deutschland Kommunismus immer negativ besetzt gewesen ist. Als Hitler an die Macht gekommen ist, hat er zuerst die KPD zerstört, die seit 1928 Stalins Befehl »Der Feind ist die Sozialdemokratie« befolgt hatte. Bei uns gab es 1936, seit Stalins Umschwung im Vorjahr, die Volksfront mit dem Sozialisten Léon Blum an der Spitze der Regierung. Im ersten Kabinett nach der Befreiung unter Charles de Gaulle saßen kommunistische Minister, die Sozialisierungen und soziale Gesetzgebung hervorragend mitbewirkten. In der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wurde 1946 die SPD mit der KPD zwangsvereinigt. Aber wir hatten in Frankreich auch furchtbare Intellektuelle, die Stalin bejubelten, obwohl sie wussten, dass er ein Massenmörder ist. Louis Aragon gehörte dazu. Und selbst Juden glaubten 1952 Stalins Mär von einem Komplott jüdischer Ärzte. Für mich sind diese Negationisten schlimmer als die Leugner der Shoah. Während letztere die Toten verneinen, haben jene die tödliche Bedrohung von Menschen nicht wahrhaben wollen, die sie vielleicht durch einen internationalen Aufschrei hätten retten können.
Den hat es auch nicht gegen die Shoah gegeben. Und ist es nicht furchtbar, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion in Osteuropa Antisemitismus wieder auflebte?
Wenn man über die Judenvernichtung spricht, muss man zuerst über den Genozid am polnischen Volk reden, zu dem viele Juden gehörten. Was ich dem Film »Schoah« vorwerfe – Claude Lanzmann verzeiht mir das nie – ist, dass er einen antipolnischen Akzent hat. Man könnte meinen, die Polen wären mit allem, was die Nazis trieben, einverstanden gewesen. Natürlich gab es und gibt es einen polnischen Antisemitismus, aber auch die nichtjüdischen Polen sind massenhaft ermordet worden. Trotz der Dimension der Shoah dürfen die anderen Opfer nicht vergessen werden. Ich fand es großartig, dass der Bundestag diesmal am 27. Januar der ermordeten Sinti und Roma gedachte und Zoni Weisz reden durfte, der sich beklagte, wie die Roma in Europa heute behandelt werden.
Wir erleben heute weltweit die Empörung der Armen gegen erniedrigende Behandlung, unmenschliche Zustände – ob in Frankreichs Banlieues oder in Arabien. Es gibt Manifeste und Aufrufe zum Aufstand. Reift eine neue Revolution heran?
Was in Tunesien geschehen ist, kann bei uns auch geschehen, wenn immer mehr Millionen Menschen in die Armut stürzen und zugleich wissen, wie von denen »da oben« Millionen vergeudet oder als Abfindung für jemanden bezahlt werden, der schlecht gewirtschaftet oder verwaltet hat. Das kann zur Explosion führen.
Bei den Bildern aus Tunis und Kairo musste ich an die jungen Ungarn 1956 und die jungen Tschechen 1968 denken, die auf die Straße gingen und für die Freiheit den Aufstand wagten. Wie oft hat man in unseren Breitengraden gesagt: »Das können die Mohammedaner gar nicht.« Sie können doch. Sie stehen für die gleiche Freiheit auf. Und das ist toll. – In Libyen drohten sie allerdings niedergemetzelt zu werden.
Befürchten Sie nicht mit den Umbrüchen in Arabien ein Erstarken des extremen Islamismus?
Ich bin Politologe, also jemand, der im Nachhinein erklärt, wieso man etwas hätte voraussehen müssen. Ich selber sehe nichts voraus. Ich bin kein Prophet. So viel jedoch kann ich sagen: Wenn wir nach 1945 die jungen Deutschen vor den Kopf gestoßen hätten: »Ihr seid alle Nazis, mit euch wollen wir nichts zu tun haben«, dann wäre der Neonazismus heute wesentlich stärker, als er leider trotzdem noch ist. Wenn man den jungen Muslimen sagt: »Wir trauen euch nicht, ihr seid alle Islamisten, Terroristen, mit euch wollen wir nichts zu tun haben«, dann wird der extreme Islamismus gewiss erstarken. Wir müssen Kontakt finden zu den jungen Leuten in den arabischen Staaten, müssen sie in ihrem Freiheitswillen bestärken, dürfen sie aber nicht belehren. Schulmeisterliche, patriarchale Pose hat noch nie etwas Gutes bewirkt. Unser 1948 gegründetes Comité hieß: »Für Austausch mit dem neuen Deutschland«. Nicht im Sinn Ihrer Zeitung. Unser Credo war: Gleichberechtigung. Keine »Reeducation«!
Das sagt ein erfahrener Moralpädagoge. Merci beaucoup.
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