Täglich tintenfrische Noten
Die Musikademie Rheinsberg wird an diesem Samstag 20
Zwar bequemt sich die Sonne bereits, zage Lichtflecken über den Schlosspark zu streuen, doch der Grienericksee liegt noch dunkel, und der Märzwind weht noch kalt. Er lässt das Laub des Vorjahres an den eleganten Spalieren erzittern, so dass man es wispern hört, bis eine Motorsäge kreischt: Irgendwo, in der Tiefe des Parks, werden Bäume zurückgeschnitten. Während sich die Statuetten noch hinter schützenden Schalen aus Holz verbergen, steckt eine Gärtnerin Blumenzwiebeln, und erste Spaziergänger füttern Enten, die sich im eisigen Wasser des Schlossgrabens mit Paarungsritualen vergnügen. Selbst in dieser frühen Jahreszeit teilt sich das Glück des Ortes mit: Natur, Architektur und Kunst flirten so anmutig miteinander, dass sich der Gedanke nahezu aufdrängt, auch andere Musen müssten willkommen sein.
Diesen Gedanken hatte bekanntlich auch der Komponist Prof. Siegfried Matthus. Nach der Wende gelang es ihm, hier in Rheinsberg, im früheren Domizil der Preußenprinzen Friedrich und Heinrich, jenes Opernfestival zu etablieren, das junge Opernsänger aus aller Welt fördert. Die Saison der Kammeroper beginnt freilich erst Ende Juni und endet im August wieder. Und doch wird auch jetzt schon musiziert. Zu danken ist das Dr. Ulrike Liedtke. Sie kam einst mit Matthus nach Rheinsberg, fand es dann aber viel zu schade, das Fest der Musik hier lediglich mit einem Paukenschlag zu begehen. Sie wollte es auf »Säulen« stellen, die es durchs ganze Jahr tragen, und das gelang ihr, indem sie vor 20 Jahren die Musikakademie Rheinsberg gründete.
Landläufig sind Akademien Forschungs-, Lehr-, Bildungs- und Ausbildungsstätten. Liedtkes Akademie ist all das und mehr: auch Aufführungsort und Musentempel. Während also die Kammeroper noch ihren verdienten Winterschlaf hält, hat sich die Musikakademie das ganze Jahr über nicht zur Ruhe begeben. Etwa 200 Kurse Jahr für Jahr locken junge Musiker in das historische Kavaliershaus am Rande der Schlossanlage, rund 150 Veranstaltungen – Sinfonie- und Kammerkonzerte, eigene Opernproduktionen, Lesungen, Ballettabende bis hin zum Musiktheater für Kinder – finden alljährlich ihr Publikum. Zu Weihnachten werden Märchen gegeben, zu Silvester rauschende Bälle.
Auch an diesem Tag im März brummt das Kavaliershaus vor Leben. Die Chorgemeinschaft »pro musica« probt – Sängerinnen und Sänger aus Berlin-Treptow haben das Angebot genutzt, sich ein paar Tage einzumieten: Für Kost und Logis ist gesorgt.
In einem anderen Raum trifft man Frank-Immo Zichner gestikulierend bei seinem Meisterkurs. Der Pianist ist gefragter Dozent an den Musikhochschulen Weimar, Leipzig und Berlin sowie Visiting Professor der School of Bloomington in den USA. Konzerte führten ihn in 25 Länder, für seine CD-Einspielungen wurde er mehrfach preisgekrönt. In Rheinsberg lehrt er nicht zum ersten Mal, und wie immer ist er gern hier: Eine Woche lang kann er sich voll und ganz seinen Schülern widmen, die sich ihrerseits, von nichts abgelenkt, ganz auf ihre Kunst konzentrieren. Teilnehmen darf, wer sich anmeldet – Meisterschaft wird nicht erwartet, sie soll ja erst erlangt werden. Thema von Zichners diesjährigem Kurs: »Das Klavier als Solo- und Kammermusikinstrument« – nur einem Prozent der Pianisten gelingt nach dem Studium die Solokarriere. Der »Rest« hat es überaus schwer, eine Festanstellung zu finden, denn auch Orchester sind nicht mehr so üppig gesät. So ist Kammermusik für Pianisten eine Chance, das Brot zu verdienen.
Die künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Akademie knapst sich ein wenig Zeit für uns ab. Nein, im Park war Ulrike Liedtke heute noch nicht, auch nicht in den vergangenen Tagen. Aber sie hat den Park auf der Netzhaut. So wie jeder ihn auf der Netzhaut habe, der herkomme, um zu arbeiten. Die Harmonie der Anlage entspanne. Und die Geschichte, die das Schloss gleichsam aus jeder Pore atmet, sei Inspiration pur, sagt Liedtke.
Ulrike Liedtke erinnert sich: Als sie 1990 hier anfing, war an Entspannung nicht zu denken. Andere hätten das, was sie vorfand, wahrscheinlich deprimierend genannt. Sie nannte es vielversprechend. Das Schloss war in der DDR als Diabetikerklinik genutzt und so immerhin beheizt worden – es hätte schlimmer kommen können. Das Theater, welches Prinz Heinrich 1774 erbauen ließ – eine Ruine, der nicht nur das Dach fehlte. Vor den Gebäuden riesige Kohlenhaufen – »um hier etwas Neues aufzubauen, musste man es mit Haut und Haaren wollen«. Liedtke wollte. Und sie konnte. So zart, wie sie aussieht, ist sie nicht; Kraftakte waren ihr nicht fremd: Von Haus aus Musikwissenschaftlerin, hatte sie nach der Promotion an der Berliner Akademie der Künste über Neue Musik gearbeitet, bis sie die akademische Nische 1989 verließ, um in die Politik zu gehen. Beim Berliner Magistrat leitete sie in schwieriger Zeit die Abteilung für Musik, Theater, Museen und Film, und als die Stadt zusammenwuchs, setzte sie durch, dass die Ostberliner Singakademie, das Sinfonieorchester sowie das Kino Babylon erhalten blieben. Nun sah sie sich wieder herausgefordert.
Von Anfang an schwebte ihr ein Haus vorwiegend für junge Künstler vor. Gefördert werden sollte hier der Diskurs über Musik, mit Kursen, Konzerten, CD-Produktionen, Opern- und Theateraufführungen. Wer immer solch ein Projekt verwirklicht, muss überzeugen, Partner gewinnen, fordern, bitten, einstecken, zu Boden gehen, aufstehen können. Wenn von Kunst die Rede ist, spricht man ja nur ungern über Geld. Aber ohne Geld geht es nicht. Liedtkes finanzielles Konzept: Die Einnahmen aus den Meisterkursen, die die Akademie ausschreibt, sollten in Aufführungen fließen, deren Erlöse wiederum den musischen Diskurs bereichern. Tatsächlich trägt sich die Akademie heute zu 51 Prozent selbst. Da sich eine kleine Gemeinde wie Rheinsberg mit nur 5000 Einwohnern nicht einmal 49 Prozent leisten könnte, fördern das Land Brandenburg und der Bund, weshalb Liedtkes liebstes Kind den Titel Landes- und Bundesakademie führt.
Frank-Immo Zichners Meisterschüler vertreten sich nach dem Mittagessen, in der Kantine, die Füße am See. Monarchen und die, die es werden wollten, wussten sehr genau, wo es schön ist. Welch musikhistorischen Schatz das Rheinsberger Schloss darüber hinaus barg, ahnte Ulrike Liedtke 1990 noch nicht. Als sie ihn entdeckte, war sie begeistert.
1736 hatte Kronprinz Friedrich von Preußen, der spätere Friedrich II., mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, die er hatte heiraten müssen, das Schloss in Besitz genommen. Es war eine Gabe des strengen Vaters, ein Geschenk auch an räumlicher Distanz, so dass Friedrich, noch unbelastet von künftiger Verantwortung, in Rheinsberg nach eigenen Worten seine »glücklichste Zeit« verlebte. Hier las und musizierte er viel. Der oftmals auch heute noch als »Flöten-Friedrich« Verspottete, war als Musiker keineswegs Dilettant, kann Ulrike Liedtke belegen. Sie wird lebhaft, wenn sie berichtet: Als Kind zum Cembaloüben gezwungen, kannte sich Friedrich mit Noten aus, komponierte in Rheinsberg selbst. Er unterhielt eine Hofkapelle, von deren Musikern er täglich »tintenfrische Noten« verlangte. Die mussten sie ihm vorspielen, wenn er sie abends – es gab noch kein Fernsehen – zur Kammermusik beorderte. Aus dieser Hofkapelle ging die spätere Staatskapelle hervor. Friedrich II. holte die Rheinsberger Musiker nach Berlin, als er dort 1743 Unter den Linden seine Hofoper gründete. Aus der, wie man weiß, die Staatsoper wurde.
Nach dem Tode des Vaters Wilhelms I. entsorgte Friedrich seine Frau ins Berliner Schloss Hohenschönhausen und vermachte das Rheinsberger Schloss Bruder Heinrich, unter dem es zum Musenhof erblühte. War Friedrich der Musik verfallen, huldigte Heinrich mehr dem Theater. Er ließ zeitgenössische Opern aufführen, französische wie italienische, und nach einem Aufenthalt Christoph Willibald Glucks bei Hofe soll in der Stadt, die sich heute wieder erinnert, das »Gluckfieber« ausgebrochen sein ...
Ein Fundus für Ulrike Liedtke. Nicht nur, dass sie mit Studenten Friedrichs historische Partituren, jeweils für ein Instrument auf ein gesondertes Blatt gesetzt (wobei nicht immer erkennbar war, »was Note war oder nur Fliegenschiss«), für Kammerorchester zusammenfügte. Nicht nur, dass die Akademie die Rheinsberger Hofkapelle wiederbelebte, indem sie den Titel jedes Jahr an eine junge Musikformation vergibt. Nicht nur, weil Liedtke gerade dabei ist, ihr neues Buch fertigzustellen, das den Titel trägt: »Ich bin Komponist. Briefe an Wilhelmine von Bayreuth. Friedrich II. als Musiker« – es wird pünktlich auf dem Markt sein, wenn die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten das kommende Jahr Friedrich II. widmet, doch möglicherweise in der Flut verkäuflicher Friedrich-Literatur versinken.
Nein, es sind die heute wieder tintenfrischen Noten von einst, die in Rheinsberg gespielt werden – die Opern Niccolò Piccinnis, Antonio Sacchinis, Andre-Ernest-Modeste Grétrys. Und es sind die tintenfrischen Noten, die in unserer Zeit entstehen: die Noten Krzysztof Pendereckis, Georg Katzers, Paul-Heinz Dittrichs, Helmut Zapfs, Josef Anton Riedls. Einen Auftritt hat Neue Musik auch während der jährlichen Pfingstwerkstätten – die Allianz Neuer und Alter Musik ist in Rheinsberg Markenzeichen geworden. Und seit 1999 das Schlosstheater wiedereröffnete, hat das zweite Leben des Musenhofs noch einmal beträchtlich an Glanz gewonnen. Manch Opernfreund kommt von weither, bietet das Rheinsberger Repertoire doch vieles, was er zu Hause kaum findet.
Was für Stimmen und was für Darsteller! Wir sehen zu, wie junge Opernsänger die große, nun schon traditionelle Osteraufführung vorbereiten. Sie alle sind extra gecastet worden und mit Freude und Eifer dabei, die wiederentdeckte Oper »Das Urteil des Midas« von Grétry auf die Bühne zu bringen. Die Inszenierung liegt in den Händen der jungen Regisseurin Barbara Schöne, die sonst am Erfurter Theater arbeitet, und somit in guten Händen. So viel sei verraten, mehr nicht. Bis Ostern ist es nicht lange hin, man darf selbst einen Eindruck gewinnen.
Zu Ostern nach Rheinsberg, wie wär's? In der Stadt wird man erfahren, dass die Akademie ein Glücksfall ist. Davon, dass sie die Idee vor 20 Jahren »spinnert« fanden, wollen die Rheinsberger nichts mehr wissen. Welche 5000-Seelen-Gemeinde hat schon ein Theater vorzuweisen? Die Rheinsberger besuchen es oft, ihre Kinder sind stolz auf die Musicals, die sie mit der Akademie in Szene setzten. Vor allem aber schlägt der Musenhof spürbar als Wirtschaftsfaktor zu Buche: War die Industrie in der Stadt nach der Wende weggebrochen, setzt diese heute auf Tourismus. Da schadet es nicht, wenn sie sich sowohl sehenswert als auch hörenswert präsentiert. Auch wir haben während unseres Ausflugs am Rheinsberger Markt je einen Teller Soljanka und am Hafen ein Fischbrötchen verzehrt.
Wenn die Musikakademie an diesem Samstag ihr 20-jähriges Bestehen mit einem festlichen Akt begeht, gehören wir zu den Gratulanten.
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