Wie Leid leuchtet
Dessau: »Die Nibelungen: Siegfriedsaga«
Maurice Béjart ließ seine geniale Paraphrase auf den Untergang der Nibelungen und Burgunden 1990 mit grandiosem Bild enden: Ein Riss bringt ihr Reich zum Einsturz. Auch Tomasz Kajdanski hält 21 Jahre später in seinem Zugriff auf den Brachialstoff am Anhaltischen Theater Dessau eine imponierende Schlusslösung bereit. Die Schräge, die ihm Dorin Gal als Einstieg der Helden ins Geschehen gebaut hat, splittert auf und gibt leere Fenster frei, aus denen Gestalten hervorquellen, um im selben Moment zu erstarren. Dem todgeweihten Königtum ist eine Zukunft nicht beschieden. Erst Erda, wie sie im wallend weißen Kleid über der Szene schwebt, lässt Hoffnung auf Neubeginn keimen.
Den hat sie im selben Kostüm schon einmal bewirkt: am Anfang aller Zeit, als die Erdgöttin die Welt erschuf. In Dessau tut sie das bei schwarzer Auskleidung von Szene und Proszenium unter einem Video mit blauweißem Urgewölk, daraus Schnee rieselt – bis die Leinwand von Eisschollen bedeckt ist. Mit künstlich langem Arm streicht Erda in ihrem Solo über den Raum, lässt segenspendend das Gewand flattern.
Zierlich, aber stolz schreitet Siegfried in mattem Schwarz mit sexy Lederschurz die Schräge herab. Schon hat er einen Kampf zu bestehen mit Mime, Herr über die geduckt kriechenden Nibelungen. Dem schlafenden Helden legt Erda dann, auch sie nun im Schwarz der Irdischen, jenes unbezwinglich machende Silberschwert auf den Leib. Das möchte ihm Mime abjagen, Siegfried besiegt ihn, erhält Macht in Nibelheim. Über der geröteten Schräge hängt gestaffelt dessen maskiertes Volk.
So beginnt Kajdanski sein zweieinhalbstündiges Opus magnum »Die Nibelungen: Siegfriedsaga«. Anlass war der 150. Geburtstag von Friedrich Hebbels Trauerspiel »Die Nibelungen«, auch die stete Herausforderung durch Wagners Tetralogie, die in Dessau Einzug halten soll. Musik daraus in einer hauseigenen Orchesterfassung trägt den vierteiligen Abend. Auf »Siegfrieds Jugend« zu Musik aus »Das Rheingold« als Einstieg folgt »Siegfrieds erste Liebe« zu Musik aus »Die Walküre« und meint die Begegnung des Recken mit Brunhilde. Hatte er bislang reichlich Tanz zu bewältigen, versorgt ihn Kajdanski im Duett mit der gepanzerten Amazone nochmals mit klassischem Repertoire, wie man es bei ihm eher selten sieht. Zum Walkürenritt liefern sich die Amazonen rasante Scharmützel. Siegfried befällt Angst, er scheint sein Schicksal zu ahnen. Als er Alberich bezwingt, gewinnt er dessen Tarnkappe und Nibelheims Gold: Ein riesiges Tuch erstickt ihn beinah, Erda aber steht bewahrend vor ihm.
»Siegfried zwischen zwei Frauen« zu Musik aus »Siegfried« führt nach Burgund an Gunthers degenerierten Hof. Den schwachen König dominiert Hagen, Juwel ist Kriemhild in ihrer Schönheit: drei von Einsamkeit Zerfressene in grauem Kerker. Ihr Werkzeug wird Siegfried, der sich in Kriemhild verliebt und mit ihr eines der emotional stärksten, technisch schwersten Duos des Abends hat.
Zu Musik aus »Götterdämmerung« dann »Siegfrieds Tod«. Aus einer Tanzsinfonie hohen Anspruchs wird nun packende Dramatik, wenn Hagen Siegfried meuchelt und von Kriemhild gerichtet wird. Brunhilde springt hinterm glutrot lodernden Katafalk des toten Helden in den Rhein. All das taucht Kajdanski in reinen Tanz, verzichtet auf Pantomime und Erzählgestik und fährt auch inszenatorisch seine Tricks auf. Fackeln beleuchten die Szene, bevor eine Regenwand in Bühnenbreite die Schuld zu tilgen sucht und Erda weit hinten auffährt: Lichtblick nicht für diese, wohl aber eine andere Welt.
Was Kajdanski mit nur 15 Tänzern, besonders der Solistenequipe, auf die Bühne wuchtet: ein Meisterstreich. So elegant wie seine Bewegungserfindung ist Gals Ausstattung ganz in Schwarz- und Grautönen. Was Anna-Maria Tasarz als wehrhafte Brunhilde, Yuliya Gerbyna als zarte Kriemhild, Juan Pablo Lastras als schleimiger Hagen leisten, wird nur vom dauertanzenden Siegfried des Jonathan Augereau übertroffen. Zu respektabler Leistung führte Daniel Carlberg die Anhaltische Philharmonie.
Nächste Vorstellung: 7. April.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.