Löschen heißt die Vernunft

Koalition kippte Zugangserschwerungsgesetz zur Internetsperre

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Nach den Turbulenzen um die FDP-Führung wollen die schwarz-gelbe Koalition und das Kabinett nun wieder Politikfähigkeit beweisen. So hat der Koalitionsausschuss am Dienstagabend über eine Reihe strittiger Fragen im Bereich der Innen- und Justizpolitik beraten. Künftig sollen etwa Kinderpornoseiten im Internet vorrangig gelöscht und nicht gesperrt werden. Bei der Verlängerung der Antiterror-Gesetze, die noch aus rot-grüner Zeit stammen, erzielten die Koalitionspartner noch keine Einigung. Die Vorschläge von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zur Reform der Arbeitsmarktinstrumente fanden dagegen Zustimmung.

Wohl die meisten Bundesbürger orientierten sich gerade aufs Schlafen, da teilte die Bundesjustizministerin allen, die ihr bei Twitter folgen, mit: »Die endgültige Absage an eine Internet-Sperrinfrastruktur durch den Koalitionsausschuss heute Abend ist ein Sieg der Vernunft.« Minuten später kommentierte die Internetspezialistin der Bundestags-Linken Halina Wawzyniak: »Wenn's stimmt – ein versöhnlicher Ausklang des Tages.«

Es stimmte. Die Union hatte den zahlreichen Protestlern, die eine schleichende Zensur des Internet befürchteten, nachgegeben und sich von den umstrittenen Sperren für Kinderpornos im Netz verabschiedet. Das entsprechende Gesetz war in der Vorgängerregierung maßgeblich von der damaligen Familien- und jetzigen Arbeitsministerin »Zensursula« von der Leyen (CDU) initiiert worden. Union und FDP hatten aber im Koalitionsvertrag 2009 vereinbart, die Sperren zunächst nicht anzuwenden und ein Jahr lang zu erproben, ob Löschen nicht der bessere Weg zur Bekämpfung der kriminellen Abscheulichkeit sei.

Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) hat die Verbreitung von Kinderpornografie seit dem Jahr 2000 stark zugenommen. 2008 gab es laut Kriminalstatistik 2755 Straftaten in diesem Bereich. Weit mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2000. Die zunehmende Verbreitung solcher Seiten hängt ganz offenbar damit zusammen, dass immer mehr Menschen das Internet nutzen. 6705 Personen rückten 2008 wegen des Besitzes von Kinderpornografie als Tatverdächtige in das Visier der Fahnder. Die Verdächtigen waren zu 93,2 Prozent männlich und zu 92,9 Prozent älter als 21 Jahre.

Nun kann alles rasch gehen, sagt Wawzyniak. »Die Regierungskoalition muss ein Gesetz einbringen, mit dem das Zugangserschwerungsgesetz aufgehoben wird. Die Oppositionsfraktionen haben dazu bereits etwas vorgelegt, hier darf die Koalition gerne abschreiben.«

Das war's? Auf ihrer fast schon euphorisch zu nennenden Siegeswelle verkündete FDP-Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gleichfalls in der Nacht zum Mittwoch: »Die Korrektur von innen- und rechtspolitischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit wird fortgesetzt.«

Große Worte – dabei wissen wir noch nicht einmal, womit sich die Union ihren Rückzug vergüten lässt. Beobachter spekulieren – nicht sehr glaubhaft –, dass es die gelbe Zustimmung zur Visa-Datei war. Die ist ohnehin in der Koalitionsvereinbarung verankert. Ist der Union vielleicht ein liberales Entgegenkommen bei der Vorratsdatenspeicherung avisiert worden? Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) lässt sich dabei von seiner Kabinettskollegin Leutheusser-Schnarrenberger nicht beirren. Er tarnt sich – wie der Wolf im Märchen – und spricht mit Kreidestimme nur noch von »Mindestdatenspeicherung«. Die soll, so sagt er mit Verweis auf die EU, sechs Monate betragen.

Oder läuft der schwarz-gelbe Deal auf die Verlängerung der im Zuge des Anschlags vom 11. September 2001 erlassenen Antiterror-Gesetze hinaus? Bis Mai will Hardliner Friedrich einen Vorschlag machen. Obwohl »in keiner Weise belegt ist, was die Gesetze an Sicherheitsgewinn gebracht haben« und »ob die massive Beschneidung von Bürgerrechten verhältnismäßig ist«, kritisiert der Innenexperte der Bundestags-Linksfraktion Jan Korte.

Mal sehen, was Leutheusser-Schnarrenberger dann twittert.


  • Das »Zugangserschwerungsgesetz« sah vor, alle großen Provider in Deutschland zu verpflichten, den Zugang zu kinderpornografischen Inhalten zu blockieren. Besucher solcher Seiten sollten abgehalten werden, indem ihnen ein virtuelles »Stoppschild« gezeigt und die Nutzung damit erschwert werden sollte. Grundlage sollte eine Liste von Internet-Seiten sein, die vom BKA verfasst wird.
  • Kritiker des Sperrgesetzes befürchteten, dass so die Möglichkeit zur generellen Internetzensur eröffnet werde. Zudem hieß es, eine Sperre sei leicht zu umgehen, überdies werde den Verbreitern der kriminellen Pornografie nicht das Handwerk gelegt. Der Bürgerrechtsverband AK Zensur hatte deshalb im Februar Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz eingelegt.
  • Ein Argument für Sperren lautete, viele Seiten würden aus dem Ausland verwaltet. Auch das BKA sah das als Problem beim Löschen an, ließ sich aber eines Besseren belehren. Binnen zwei Wochen seien 93 Prozent der gemeldeten Inhalte gelöscht worden, nach vier Wochen sogar 99 Prozent. hei
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