Massenbewegung ohne Widerstand
Vor 100 Jahren entdeckte der Niederländer Heike Kamerlingh Onnes die Supraleitung
»Kwik nagenoeg nul«, schrieb der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes am 8. April 1911 in sein Notizbuch: »Quecksilber nahe genug Null«. Dies war, soweit bekannt ist, der erste Hinweis auf eines der rätselhaftesten Phänomene der Natur: die Supraleitung. Schon in den Tagen zuvor hatte Kamerlingh Onnes an der Universität Leiden Quecksilber mit flüssigem Helium stark abgekühlt und dabei beobachtet, dass das Metall bei etwa –269 Grad Celsius (°C) schlagartig seinen Widerstand verlor. Anfangs glaubte der Physiker an einen Messfehler und bat seine Mitarbeiter mehrmals, die experimentelle Anordnung genau zu überprüfen. Denn nach einer damals verbreiteten Auffassung hätte der durch Atomschwingungen verursachte elektrische Widerstand erst am absoluten Nullpunkt der Temperatur, also bei –273,15 °C oder null Kelvin (0 K), völlig verschwinden sollen. Doch so oft Kamerlingh Onnes das Experiment auch wiederholte, das Ergebnis war stets dasselbe: Bei rund 4 K leitete Quecksilber den elektrischen Strom verlustfrei.
Obwohl manche Wissenschaftler ein solches Verhalten schlicht für unmöglich hielten, wurde Kamerlingh Onnes bereits 1913 »für seine Forschungen über die Eigenschaften der Materie bei tiefen Temperaturen« mit dem Physiknobelpreis geehrt. Im selben Jahr noch konnte er nachweisen, dass auch Blei supraleitend wird, wenn man es unter –266 °C abkühlt. An die Möglichkeit, elektrischen Strom in tiefgekühlten Kabeln über größere Strecken verlustfrei zu transportieren, dachte Kamerlingh Onnes übrigens schon damals. Er selbst startete in einem supraleitenden Bleikabel einen Ringstrom und schaltete die Batterie ab. Ein Jahr später floss der Strom immer noch, ohne sich messbar abgeschwächt zu haben.
Wie war so etwas möglich? Es dauerte fast 50 Jahre, ehe die US-Forscher John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer darauf eine Antwort fanden, die ihnen 1972 den Physiknobelpreis einbrachte. Nach der BCS-Theorie verbinden sich die Elektronen beim Unterschreiten der Sprungtemperatur zu sogenannten Cooper-Paaren, die aufgrund ihrer quantenmechanischen Eigenschaften anderen Gesetzen gehorchen als einzelne Elektronen. So können sie, was Einzelelektronen verboten ist, einen Quantenzustand gleich vielfach besetzen und damit eine Art Superelektron bilden, welches sich über den gesamten Supraleiter erstreckt. Das wiederum hat zur Folge, dass die Bewegung dieses Superelektrons durch das Kristallgitter reibungsfrei erfolgt und nicht durch Zusammenstöße mit einzelnen Atomen behindert wird, die in einem gewöhnlichen Leiter den elektrischen Widerstand hervorrufen. Selbst wenn ein Cooper-Paar an einer Stelle auseinanderbricht, entsteht an anderer Stelle ein neues und der Stromtransport erfolgt weiterhin verlustfrei.
Neben Metallen besitzen auch Metallverbindungen die Eigenschaft der Supraleitfähigkeit, die zudem häufig bei einer »höheren« Sprungtemperaturen einsetzt. Rekordhalter war lange Zeit die Niob-Germanium-Verbindung Nb3Ge mit rund 23 K. Die Erzeugung einer solchen Temperatur mit flüssigem Helium ist jedoch technisch so aufwendig und teuer, dass manche Physiker nahe daran waren, die Hoffnung auf eine praktische Anwendung der Supraleitung aufzugeben. Das änderte sich 1986. In diesem Jahr stießen die Zürcher IBM-Forscher J. Georg Bednorz und Alexander Müller völlig überraschend auf ein Lanthan-Barium-Kupferoxid, das bei 35 K supraleitend wird. Die schnell einsetzende Suche nach weiteren Hochtemperatur-Supraleitern führte zur Entdeckung von keramischen Kupferoxid-Verbindungen (Kuprate), deren Sprungtemperatur oberhalb der magischen Grenze von 77 K liegt. Denn ab dieser Temperatur lässt sich die Supraleitung kostengünstig mit flüssigem Stickstoff erzeugen. Schon 1987 stellten Physiker fest, dass Yttriumkuprat, eine Verbindung aus Yttrium, Barium, Kupfer und Sauerstoff, bei etwa 93 K in den supraleitenden Zustand übergeht. Den bis heute anerkannten Rekord hält seit dem Jahr 2000 Quecksilberkuprat mit 138 K. Allerdings wurden unter hohem Druck auch Sprungtemperaturen von 150 K und mehr erreicht.
Da Kuprate enorm spröde sind, taugen sie schlecht zur Herstellung dünner Drähte. Zwar wurde 2001 in Kopenhagen erstmals ein supraleitendes Kabel verlegt, das mehrere tausend Haushalte mit Strom versorgt. Ansonsten jedoch steckt die großtechnische Anwendung der Supraleitung noch in den Kinderschuhen. »Das Hauptproblem ist die notwendige Kühlung zu extrem niedrigen Temperaturen«, sagt Wolfgang Sandner, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). »Erst wenn es der Forschung gelingt, robuste Hochtemperatur-Supraleiter zu entwickeln, werden sie viele Bereiche der Technik und des alltäglichen Lebens revolutionieren.« Manche Physiker träumen sogar von Raumtemperatur-Supraleitern, mit deren Hilfe man etwa Solarstrom aus Wüstengebieten verlustfrei nach Europa transportieren könnte. Offen ist jedoch, ob bei derart hohen Temperaturen die supraleitenden Eigenschaften nicht verloren gehen.
In verschiedenen High-Tech-Bereichen sind Supraleiter schon heute unverzichtbar. Sie kommen vor allem dort zum Einsatz, wo ultrastarke Magnetfelder benötigt werden, so in Teilchenbeschleunigern, experimentellen Kernfusionsanlagen oder Kernspintomographen. Man findet sie aber ebenso in empfindlichen Magnetometern, die etwa in der Herz- und Hirnforschung dazu dienen, kleinste Magnetfeldänderungen zu messen. Darüber hinaus arbeiten Wissenschaftler bereits an supraleitenden Computerchips, die nicht nur schneller sind als herkömmliche Produkte dieser Art, sondern auch deutlich weniger Wärme erzeugen.
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