Gesund, wer sich auf einen Maßstab stützt

Der Schauspieler Hilmar Thate wird am Sonntag achtzig

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Hilmar Thate als Richard III (1972).
Hilmar Thate als Richard III (1972).

Erinnerung ist kein Original, sondern bloß ein Zweites, und Gedenken bleibt ein schwacher Reflex – primär ist nur Teilhabe. Zumal am Theater, dieser flüchtigsten aller Künste, die den unmittelbaren Augen-Schein braucht. Wie also über einen Schauspieler schreiben, von dessen darstellerischem Leben man im Osten Jahre ausgeblendet bleiben musste? Denn Hilmar Thate hatte, gemeinsam mit seiner Frau Angelica Domröse, nach der Biermann-Ausbürgerungsschande die DDR verlassen.

Schauspieler-Arbeit hat in wesentlichen Teilen mit einer wahrhaftigkeitsbesessenen Beobachtungsgabe zu tun. Für Thate bedeutete das: Seine Arbeit kam auch in bedenklichen Zeiten nicht ohne jene Bewusstseinskraft aus, die fortwährend jenen politischen Kontext kontrolliert, in dem Kunstausübung stattfindet. Thate hat diesen politischen Kontext seines Wirkens sehr wachsam kontrolliert – und irgendwann an ihm gezweifelt. Und Konsequenzen gezogen. Ist weggegangen, weil er nicht verzweifeln wollte an Lüge und seelischer Versehrtheit. Seine Theater fortan: Bochum, Stuttgart, Hamburg, Basel, Wien, Westberlin. Die Regisseure: Zadek, Karge, Langhoff, Bergman, Savary, Tabori, Kirchner. Die Rollen, unter anderem: Tartuffe, Titus Andronicus, Sganarelle, Stalin, Mephisto.

Bleibt, wenn man als damaliger Ostmensch über den Bühnenschauspieler Thate schreiben will: die Not zur Tugend zu machen und an die Anfänge erinnern. Das Berliner Ensemble. Aber merkwürdig: Beim Blick auf des Darstellers Kunstverhalten heute scheint dieser Anfang stärker denn je lebendig zu sein. Keine Not, pure Tugend. Not nur im Sinne, dass es in maßstabseichten Zeiten schwer hat, wer früh Weltmeister war. BE, das war weltmeisterliches Leben. Gesund dies: sich auf einen Maßstab stützen zu können

Thate macht noch immer den Eindruck, als sei er mit seinen Ursprüngen niemals fertig geworden. Als hätte er nie fertig werden wollen. Ursprünge, die größer sind, als es die DDR zu sein vermochte. Dieser Künstler, von einem Aufbruch getragen und in Stürze hineingeraten, blieb offen für alles Leidige, das die Welt in so äußerst komplizierter Lage hält. Ob sie sich nun fälschlicherweise Sozialismus nannte oder richtigerweise Kapitalismus nennt.

Gewiss darf gesagt werden, dass sich mit solcher Erfahrung, mit solchem Klarblick die Hoffnung minderte, Kunst könne entscheidend Veränderung bewirken. Aber: Wenn etwas nicht entscheidend geändert werden kann, dann eben anders; wenn nicht kräftig, dann vielleicht unmerklich, sanft. Thate verließ nie das Feld, auf dem er solche Möglichkeiten sah (in Filmen von Fassbinder, Wedel; in Zwei-Personen-Stücken von Vilar und Turrini, mit seiner Frau als Partnerin), aber er ist niemals einer Popularität verfallen, die ihn von seiner Biografie hätte trennen können. Immerhin: Er lehnte einen »Tatort«-Kommissar ab.

Der 1931 in Döhlau bei Halle geborene Sohn einer Bäuerin und eines Maschinenschlossers arbeitete von 1958 bis 1970 am Berliner Ensemble. War Givola in Brechts »Aufhaltsamem Aufstieg des Arturo Ui«: ein ölig verratteter Clown, der sich über die Brüstung der Rang-Loge hängte und das »Lied von der Tünche« ins Publukum schmierte. War Pawel in Brechts »Mutter« und Jean Cabet in den »Tagen der Commune«, das Proletarische besaß einen erschütternden Todesmut, der von naiver Lebenslust kam. War Galy Gay in Brechts »Mann ist Mann«, rieb sich die Hände in Vorfreude auf einen Fischkauf, und rieb sich später in gleicher Art die Hände in Vorfreude auf die soldatische Abschlacht-Arbeit; Verwandlung eines Kleinbürgers in einen Mörder – Verwandlung?, ein Gleichbleiben von Händereiben zu Händereiben; Charakter wandelt sich nicht, er verrät sich.

Dann: der Aufidius in Shakespeares/Brechts »Coriolan« (in grandiosem Duell mit Ekkehard Schall in der Titelrolle) – Thate war unter Wekwerth, Palitzsch, Tenschert, Birnbaum der Kantige, Kraftvolle, der aus den Kiefernmuskeln heraus spielen, dessen unverwechselbare Stimme schmetternde Kraft und dunkler Samt sein konnte. Er fragte auf jeden Text ein, bis dessen Rationalität erschöpft war. Er wollte aussagen und angreifen. Vielleicht gebar er mit seinem bohrenden, treibenden Temperament so etwas wie eine neuzeitliche proletarische Grazie, eine kämpferische Romantik, die sehr viel mit Brecht zu tun hatte und zu tun behielt: Wie es ist, bleibt es nicht. Ausgewiesen auch in Filmen wie »Optimistische Tragödie«, »Zement«, »Fleur Lafontaine «, »Daniel Druskat«.

Ins Komödiantische wuchtet er seit jeher mit der verbrennenden Geste eines Tragöden, und alles Tragische besitzt noch im heranbrausenden Schatten den aufhellenden Witz der Lustigen Person. Legendär sein Richard III. 1972 am Deutschen Theater (Regie: Manfred Wekwerth): ein un-verschämter Publikumskumpan, ein horrend furchtbarer und furchtsamer Sisyphos der amoralischen Lust und absurden Grausamkeit.

Am BE war Thate nicht schlechthin der große Schauspieler, er existierte in einem Zusammenhang (»Brigadehäupter« nannte die Weigel ihn und Schall), das machte ihn groß und den Zusammenhang gleichermaßen. Damit war mehr als nur Theater gemeint, und dort liegt eine Ursache, warum Thate letztlich nie wieder in einem festen Ensemble Wurzeln schlagen mochte: Er will in den wichtigsten Punkten, die eine Künstlerlaufbahn betreffen, fundamental, elementar bleiben. Will Grund behalten, auf Herkünfte verweisen zu können.

In jenem Genossen, der nach der Wende zum fatalen Rächer und Ordnungschaffer wird (im Film »Wege in die Nacht« von Andreas Kleinert), erfasst Thate auf beklemmend einfühlsame Weise und in erdenschwer-bösem Ernst das Schicksal eines Menschen, der, ausgeliefert dem Unterdruck der Neuzeit, just diese Bindung an die eigenen Wurzeln verlor.

Der große Thate, dessen Zukunft unbedingt der große Lear sein muss, wird am Sonntag achtzig.

Im DEFA-Film »Der Fall Gleiwitz« von Gerhard Klein (1964)
Im DEFA-Film »Der Fall Gleiwitz« von Gerhard Klein (1964)
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