Wir brauchen Verträge, die Beschäftigte absichern

Der Europaabgeordnete Thomas Händel befürchtet soziale Verwerfungen als Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit

  • Lesedauer: 5 Min.
Am Sonntag öffnen Deutschland und Österreich ihren Arbeitsmarkt für Beschäftigte aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Um ein Sozialdumping und soziale Verwerfungen zu verhindern, fordern insbesondere Linke und Gewerkschaften den Abschluss von Tarifverträgen in allen Branchen und die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Mit Thomas Händel sprach Aert van Riel über mögliche Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch die Öffnung gegenüber Arbeitnehmern aus acht osteuropäischen EU-Staaten ab dem 1. Mai.
Thomas Händel ist für die LINKE Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europaparlaments.
Thomas Händel ist für die LINKE Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europaparlaments.

ND: Welche Veränderungen erwarten Sie ab dem 1. Mai auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch dessen Öffnung für Arbeitnehmer aus Osteuropa?
Händel: Laut Bundesagentur für Arbeit werden wahrscheinlich zunächst etwa 100 000 Menschen im Jahr kommen. Ich halte diese Zahl durchaus für realistisch. Man darf dabei aber nicht nur auf die osteuropäischen Länder sehen. Auch polnische Arbeitnehmer beispielsweise aus den Niederlanden könnten nach Deutschland zuwandern, weil sie sich in tarifvertraglich geschützten Arbeitsverhältnissen bessere Bedingungen versprechen. Die Arbeitsmigration wird in den nächsten Jahren allerdings abnehmen. Ich gehe davon aus, dass Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt entstehen, weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auf die entsprechenden Regelungen trifft. Wir brauchen Tarifverträge und Beschäftigungsbedingungen, die Beschäftigte absichern. Ohne diese könnte die neue Regelung zu heftigen sozialen Verwerfungen führen.

Welche Probleme könnten das sein?
Wer jetzt zur Arbeitssuche nach Deutschland kommt und sich in einem Betrieb bewirbt, in dem Tarifverträge gelten, der hat kein Problem, denn für denjenigen gelten auch die Arbeitsbedingungen des dortigen Tarifvertrages. Aber in einigen Branchen gibt es keine Tarifverträge. Dort ist dem Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Über die aufgeweichte Möglichkeit, Arbeitnehmer zu den Bedingungen ihres Heimatlandes nach Deutschland zu entsenden, tritt außerdem eine Wettbewerbs- und Lohnkonkurrenz in das Land ein, der nach meiner Überzeugung nur durch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn effektiv begegnet werden kann.

Das deutsche Arbeitnehmer-Entsendegesetz, wonach arbeitsrechtliche Bedingungen bei der Entsendung eingehalten werden müssen, bietet also nach Ihrer Auffassung nicht genügend Schutz für die Arbeitnehmer?
Nein, denn nach den jetzt getroffenen Regelungen sind gerade einmal etwa drei Millionen Beschäftigte vor Lohndumping weitgehend geschützt. Es gibt aber riesige Lücken in einigen Branchen. Denn Tarifverträge sind nicht überall allgemein verbindlich. Ich sehe hierbei einen großen Regelungsbedarf, den die Bundesregierung allerdings verschlafen hat.

Vor allem in der Zeitarbeitsbranche wird ein massiver Konkurrenzdruck durch Firmen aus Osteuropa erwartet.
Wir haben in Deutschland die fatale Situation, dass schon weit über zwei Millionen Menschen für weniger als sechs Euro die Stunde arbeiten. Man hat in der Zeitarbeitsbranche zwar jetzt einen Mindestlohnsatz gefunden, der darüber liegt, aber in dieser Branche sind die sozialen Verhältnisse der Beschäftigten am schlechtesten geregelt. Deshalb braucht man dort einen höheren Mindestlohn und eine Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa lehnen Sie indes nicht grundsätzlich ab?
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit, wonach ein Beschäftigter seinen Arbeitsplatz frei wählen kann, ist eine Errungenschaft, die man nicht schlecht reden darf. Das allerdings wird nur vernünftig zu regeln sein, wenn es einen entsprechenden Schutz der jeweiligen Tarifverträge in dem jeweiligen Land gibt. Das ist in fast allen anderen europäischen Ländern so geregelt. In Deutschland weist dieses Schutzsystem dagegen erhebliche Lücken auf. Deswegen liegt die Krux nicht in der Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern in der Frage der sozialen Sicherung, die in Deutschland zu stark durchlöchert ist.

Wer wird von der neuen Regelung voraussichtlich profitieren?
Gewinner könnten Betriebe sein, die in der Lage sind, besser qualifizierte Fachkräfte anzuwerben. Da gibt es in einigen Bereichen durchaus Bedarf. Ich sehe in diesem Zusammenhang jedoch vielmehr die Notwendigkeit, die hier lebenden Arbeitnehmer besser zu qualifizieren.

Wollen Sie die Regelung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit zum Anlass nehmen, wieder eine mögliche Richtlinie für einen EU-weiten Mindestlohn ins Gespräch zu bringen?
Wir haben im Europaparlament versucht, einen Grundsatz durchzusetzen, wonach auf der Basis von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnittsverdienstes ein Mindestlohn installiert wird. Viele andere europäische Länder haben damit kein Problem. 20 europäische Länder von 27 haben eine gesetzliche Mindestlohnregelung, die mehr oder weniger in diese Richtung zielt. Andere Länder haben über tarifvertragliche Systeme Mindestlohnkonditionen, allein Deutschland hat keine vernünftige und ausreichende gesetzliche Mindestlohnregelung. Deswegen ist der Handlungsbedarf auf deutscher Ebene wichtiger als auf der europäischen Ebene.

Im Europaparlament konnten wir diese Formulierung in einigen Berichten durchbringen, aber die Europäische Union hat in dieser Frage keine Weisungskompetenz gegenüber den Nationalstaaten. Das ist in diesem Fall misslich. In punkto Schutz unserer Tarifautonomie in Deutschland ist es allerdings gut, dass die EU nichts mitzureden hat.


Das Stichwort: Arbeitnehmerfreizügigkeit

Am 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt vollständig für Erwerbstätige aus acht Ländern geöffnet, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind: Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn sowie Estland, Litauen und Lettland. Deutschland hat damit, ebenso wie Österreich, die vollständige Übergangszeit von sieben Jahren ausgeschöpft, die die EU den alten Mitgliedsländern eingeräumt hatte.

Großbritannien, Irland und Schweden hatten ihre Grenzen für mittel- und osteuropäische Arbeitskräfte sofort geöffnet, während die übrigen zehn alten EU-Länder ihre Arbeitsmärkte nach und nach öffneten. Für Zypern und Malta, die ebenfalls 2004 in die EU aufgenommen wurden, galten die Einschränkungen nicht.

Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet, dass Staatsangehörige aller EU-Mitgliedsländer in jedem anderen EU-Land zu den gleichen Bedingungen eine Arbeit aufnehmen können wie die Einheimischen. Die Freizügigkeit gehört zu den Grundrechten in der EU. Mit der Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde dieses Recht vorübergehend eingeschränkt. Die Einschränkung gilt auch weiterhin für die beiden jüngsten EU-Länder Rumänien und Bulgarien, die 2007 beitraten.

Die Aufrechterhaltung der Übergangsfrist wurde zwei Mal überprüft. 2006 und 2009 mussten die Staaten der EU-Kommission mitteilen, ob sie ihren Arbeitsmarkt öffnen oder weiter abschotten wollen. Spanien, Portugal und Finnland öffneten die Grenzen für Arbeitnehmer 2006. Polen, Ungarn und Slowenien schlossen im Gegenzug zur Abschottung der alten Mitgliedsstaaten ihrerseits ihren Arbeitsmarkt für alle EU-Arbeitnehmer außer Schweden, Iren und Briten.

Die EU-Kommission geht davon aus, dass nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes jährlich etwa 100 000 Zuwanderer aus Osteuropa nach Deutschland kommen. Das gelte für die nächsten vier bis fünf Jahre, sagte eine Sprecherin von EU-Beschäftigungskommissar László Andor am Donnerstag.
(ND/Agenturen)

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