Protest hoch drei in Hamburg

Traditionelle Gewerkschaftsdemo, Euromayday und Revolutionärer 1. Mai

  • Susann Witt-Stahl und Reinhard Schwarz
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Fahnenmeer breitet sich aus vor dem Hamburger Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof hinter dem Hauptbahnhof. Im strahlenden Sonnenschein und in steifer Brise formiert sich der Zug unter den Klängen von Anatevka (»Wenn ich einmal reich wär...«). An der Spitze flattern die Banner der Gewerkschafter und Sozialdemokraten, dann kommen die der LINKEN, weiter hinten wird es tief rot. Dort ordnet sich der internationalistische klassenkämpferische Block.

Die Landeschefs vom DGB und von ver.di, Uwe Grund und Wolfgang Rose, tragen das Motto des diesjährigen 1. Mai auf einem Transparent voran: »Das ist das Mindeste! Faire Löhne, gute Arbeit, soziale Sicherheit.« Mit so viel Bescheidenheit können die Mitglieder des SPD-Landesregierung gut leben: Wissenschaftssenatorin Dorothee Stapelfeldt und Stadtentwicklungs- und Umwelt-Senatorin Jutta Blankau, vor Kurzem noch Bezirksleiterin der IG Metall Küste, sind ganz vorn mit dabei.

Würde es nicht vereinzelt Beifallsbekundungen wie »Schön, dass er auch gekommen ist!« geben und laute Buh-Rufe, als er später offiziell vom DGB-Vorsitzenden begrüßt wird – Hamburgs prominentester Schröderianer wäre glatt übersehen worden: Bürgermeister Olaf Scholz marschierte in der Mitte einer der vorderen Reihen, mit einem schüchternen Lächeln und der obligatorischen roten Nelke im Knopfloch seines karierten Hemdes.

Rangelei um die Position im Zug

»Von der Arbeit direkt in die Kiste«, schallt es aus einem Megaphon. »Rente mit 67« steht auf einem dazu gehörenden Transparent; ein zweites ergänzt »...ist eine Horrorshow«. Das ist für die zu einem großem Teil migrantischen Marschierer vom klassenkämpferischen Block nicht nur der verschobene Altersruhestand, sondern sind auch die Banner vor ihnen, deren Aufschriften das im DGB-Aufruf enthaltene Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland herausstellen: »Forum Engineering Airbus«, ist auf einem zu lesen. Wäre nicht noch ein sehr kleines IG-Metall-Logo dabei – es könnte glatt mit Rüstungsindustrie-Werbung verwechselt werden. »Als Klassenkämpfer und Internationalisten halten wir es mit Marx und Engels statt mit dem DBG. Arbeiter haben kein Vaterland«, sagt ein Sprecher des revolutionären Blocks.

Es kommt zu einer kleinen Rangelei mit Vertretern der DGB-Jugend, die die Kommunisten und andere Antikapitalisten – sie führen Transparente mit Slogans wie »Es lebe der proletarische Internationalismus!« mit – ans Ende der Demonstration verbannen möchten. Die Gewerkschafter werden von Mitgliedern des internationalen Bündnisses gegen imperialistische Aggression zurückgedrängt: »Ab dem 2. Mai werden wir wieder am äußeren Ende der deutschen Gesellschaft sein, aber am 1. Mai laufen wir mal weiter vorn!« ruft eines den DGBlern wütend entgegen.

Nach einigen Kilometern Marsch in Richtung Norden biegt der mehrere hundert Meter lange Zug auf den Vorplatz des Museums der Arbeit in Barmbek ein. Dort wartet die Belohnung: Das DGB-Fest mit Bratwurst und Bier – und Ansprachen. Den Anfang macht Uwe Grund: »Mit einer Anzahl von 30 000 betroffenen Arbeitnehmern ist Hamburg Hauptstadt der Leiharbeit, die zum schnellen Brüter der Arbeitsmarktstatistik geworden ist.« Nachdem die Staatskasse für das »Spekulantendesaster« aufkommen musste, könne sich Deutschland seine Reichen nicht mehr leisten, meint der DGB-Chef und verliest einen Katalog von Forderungen, darunter effizientere Steuerprüfungen, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Wiedereinführung der Vermögenssteuer.

Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der IG Bauen-Agrar-Umwelt, macht darauf aufmerksam, dass aufstockende Sozialleistungen in der Summe von 2005 bis heute von acht auf elf Milliarden Euro gestiegen sind. »Wir subventionieren die Profite der Unternehmer.« In Ostdeutschland seien die Löhne teilweise so niedrig, so Wiesehügel, dass erst Stundenlöhne unter 2,50 Euro als sittenwidrig gelten würden.

Eine große Kluft gibt es bei der Schätzung der Teilnehmerzahl der diesjährigen traditionellen 1. Mai-Demo. Die Veranstalter sprechen von rund 5000, die Polizei von maximal 2500 – letztes ist in jedem Fall eine drastische Untertreibung.

Am Nachmittag folgt der zweite Streich: Ein Tross von 2000 Menschen zieht mit Parolen wie »Subkultur statt Haute Couture« und: »Wie lange arbeitest Du für Deine Miete?« durch die Hamburger Stadtteile St. Pauli und Altona. Das Symbol des Umzugs ist die Grinsekatze aus dem Märchen Alice im Wunderland.

Es ist nunmehr die siebte Euromayday-Demo in Hamburg. Die Bewegung nahm 2001 in Mailand ihren Ausgang. Mittlerweile gibt es sie in allen europäischen Großstädten. »Die Demo wendet sich an all jene, die sich von den Gewerkschaften nicht vertreten fühlen«, sagt Mitorganisatorin Petra Barz. Und das sind offenbar viele: Kleinunternehmer im Mediensektor, die am Existenzminimum entlang schrammen, Dauerpraktikanten mit einem universitären Abschluss, Menschen aus Osteuropa, die hier ohne Papiere in Haushalten putzen oder alte Menschen betreuen, Studenten in prekären Arbeitsverhältnissen.

Doch im Vordergrund der Demo steht auch der Spaß. Statt revolutionärer Kampflieder gibt es hier Rave, Reggae und Dub. »Hedonistische Internationale« ist auf einer Banderole zu lesen. Andere sind da schon deutlicher: »Anti Kapitalismus« steht auf einem T-Shirt. »Bedingungslos für alle: Grundeinkommen«, wirbt eine andere Gruppe. Sie alle eint trotz der zur Schau gestellten Fröhlichkeit, dass sie wohl trotz viel Arbeit mit wenig Geld auskommen müssen. Daher auch die Forderung nach bezahlbaren Gewerbemieten für Kleinunternehmer: »Raumfragen sind auch soziale Fragen«, sagt Petra Barz, selbstständige Bildungsreferentin. Mit vertreten ist auch das übergreifende Bündnis »Recht auf Stadt«, das gegen die Zerstörung billigen Wohnraums kämpft.

Revolutionäres am Abend

Für den Abend war noch eine dritte Demonstration angekündigt: Die Revolutionäre 1. Mai-Demo (Revomai). Die Hamburger Ordnungshüter fürchten »Anschlussaktionen« mit Flaschen- und Böllerwürfen, die es im vergangenen Jahr reichlich gegeben hatte.

Zu Redaktionsschluss versammelten sich am Bahnhof Altona bereits die ersten Teilnehmer des Revomais. Wie in bundesweit sieben weiteren Städten will die antikapitalistische Linke auch an der Waterkant am »Kampftag der ArbeiterInnenklasse« für eine »revolutionäre Überwindung des herrschenden Systems« protestieren, so der Aufruf. »Die Krise ist nicht ohne Wirkung geblieben ist. Wir werden unsere zentrale Botschaft unter dem Motto ›Klasse gegen Klasse‹ kraftvoll auf die Straße tragen«, kündigte ein Revomai-Sprecher an.

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