Bunte Linke auf Istanbuls Straßen
Hunderttausende demonstrierten für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne
Am frühen Morgen bereits zieht die erste Gruppe Demonstranten durchs Viertel. Sie haben den roten Poncho einer revolutionären Gewerkschaft übergezogen und trotzen mit Trommel und Schalmei der Kälte und dem grauen Himmel. Dieses Jahr können sie unbehelligt zum Taksim-Platz ziehen. 32 Jahre lang war die Demonstration am 1. Mai dort verboten, wurden alljährlich ganze Stadtviertel mit Tränengas eingenebelt, Hunderte festgenommen, Gewerkschaftsführer angeklagt, und einige Male gab es auch Tote. Doch seit vergangenem Jahr ist die Demonstration erlaubt, und abgesehen von einer kleinen Rangelei um eine Gruppe, die sich nicht kontrollieren lassen will, gibt es in diesem Jahr keinerlei Probleme. Die 38 000 Polizisten bleiben im Hintergrund.
Derweil strömen die Demonstrationsgruppen in einem Meer von Fahnen und Transparenten, die immer zahlreicher und kreativer werden. Wie stets sind die »Traditionalisten« stark vertreten, mit Bildern von Marx, Engels, Lenin, Mao, Mustafa Suphi, dem Gründer der ersten Kommunistischen Partei der Türkei, der 1921 zusammen mit 14 anderen Genossen auf einem Boot ermordet wurde. Stalin scheint dieses Jahr zu fehlen, Che Guevara ist seltener geworden.
Zwischen den großen Gruppen mit ihren gedruckten Fahnen und riesigen Transparenten fällt eine vierköpfige Familie mit zwei kleinen Kindern auf. Die Eltern tragen ein selbstgefertigtes Transparent mit der Aufschrift: »Die Arbeiter der Welt sollen sich vereinigen«. »Ja, das ist doch wichtig«, erklärt der Vater auf Anfrage mit einem breiten Grinsen.
Neben den traditionellen Gruppierungen der Arbeiterbewegung, einigen Frauengruppen, einer Anti-AKW-Gruppe und den wie immer zahlreichen kurdischen Teilnehmern ist erstmals auch eine kleine türkisch-armenische Gruppe dabei. Und in großer Zahl wie nie sieht man anarchistische Jugendgruppen. Viele Transparente beziehen sich auf das verbotene Buch »Die Armee des Imam«, in dem der seit zwei Monaten inhaftierte Journalist Ahmet Sik die Unterwanderung des Polizeiapparates durch die Anhänger des pensionierten Predigers Fethullah Gülen beschreibt. Obwohl alle greifbaren Kopien des Manuskriptes vernichtet wurden, ist das Buch im Internet zu lesen.
Eine Million Demonstranten wollten die Gewerkschaften in einem Sternmarsch von drei Seiten auf den Taksim marschieren lassen. Ganz so viele sind es wohl nicht geworden, doch die Demonstranten füllen immerhin den großen Platz sowie den angrenzenden Park. Am Kopfende ist ein riesiges Plakat von 15 mal 33 Meter aufgezogen. Es zeigt einen Arbeiter, dessen linker Arm noch angekettet ist, während der rechte bereits eine Fahne hochhält. Das Transparent hing hier das erste Mal am blutigen 1. Mai 1977, als von verschiedenen Dächern in die Menge geschossen wurde und 34 Menschen starben. Es war im Rückblick so etwas wie der erste Fanfarenstoß, der den Putsch von 1980 ankündigte.
34 Jahre später ist der Platz wieder so voll wie damals. Die Linke gibt es trotz aller Unterdrückung in der Türkei noch immer, aber sie ist vielschichtiger, manchmal verworrener geworden – das ist eher ein Vor- als ein Nachteil für die türkische Linke.
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