Die Hexe ist tot!

Osama bin Laden, TV-Special Agent Leroy Gibbs, ein amoralischer Präsident und die Utopie des 12. 9. 2001

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Märchen haben immer ein gutes Ende. Meistens jedenfalls – und auch nur dann, wenn man sich mit den Guten in der Geschichte identifiziert. Warum gehört unser Mitleid im Märchen von Hänsel und Gretel zum Beispiel nicht der Hexe, die von Gretel am Ende in den Backofen gestoßen wird, worauf sie jämmerlich verbrennt? Warum verurteilen wir nicht die Eltern, die ihre beiden Kinder im Wald aussetzen und dabei deren Tod einkalkulieren? Haben sich Vater und Mutter – ungewollt zwar, aber nicht ganz unwissend – nicht der Komplizenschaft schuldig gemacht?

All das Schlechte im Menschen, die Bösartigkeit, die Hinterlist wird auf die Figur der Hexe fokussiert, dabei stehen Gretel und Hänsel in Sachen Hinterlist dieser kaum nach. Hänsel führt die Hexe jeden Tag mit einem Knöchelchen hinters Licht, und Gretel wartet nur auf den günstigen Moment, um der Alten den Garaus machen zu können. Da sich beide in einem Überlebenskampf befinden, ist das allerdings verzeihlich; juristisch hat sich Gretel nicht schuldig gemacht, ihre Tat würde auch heute als Nothilfe gewertet und daher nicht bestraft werden.

Welche Not die Hexe zum Bösen getrieben hat, wir erfahren es nicht, und weil wir es nicht wissen, fällt uns das klare moralische Urteil über die alte Frau leicht und ihr Tod scheint uns gerechtfertigt. Die moralisch verwerfliche Tat der Eltern dagegen verschwindet hinter der abgründigen Bosheit der Hexe. Deren durch Gretel betriebene Tötung aber ist nicht der Sieg der Moral über die Unmoral, des Guten über das Böse, sondern der Triumph des Amoralischen über die Unschuld.

Hänsel und Gretel kommen als unschuldige, naive Kinder ins Knusperhäuschen und kehren nach vollbrachter Tötung als großzügig Verzeihende zu ihren Eltern zurück und verkünden: Die Hexe ist tot! Das Symbol für das Böse auf der Welt ist nicht mehr, und all die Kinder, die vorher von der Hexe gemästet, getötet und aufgegessen wurden, sind damit gerächt.

Die Hexe Osama ist tot, aber nur scheinbar kehrt damit das archaische Ritual der Rache in die westliche Zivilisation zurück. Das mögen die Menschen glauben, die kurz nach Verkündung der Todesnachricht Osama bin Ladens durch den US-Präsidenten Barack Obama jubelnd um Ground Zero in New York tanzten. Die erschreckende Wahrheit ist: Mit der Kommandoaktion gegen den Terror-Chef hat die Amoralität obsiegt. Es sei gut, dass Osama bin Laden zur Strecke gebracht worden sei, hieß es am Tag nach dessen Tod in vielen Kommentaren und Stellungnahmen von westlichen Politikern und Journalisten. Das Böse, es sei besiegt. Möglich ist das, aber das bedeutet nicht, dass das Gute gesiegt hat, denn verloren hat die Zivilisation.

Zum Grundkonsens bürgerlicher Gesellschaften gehört es, dass die Tötung von anderen außerhalb von Fällen der Notwehr oder Nothilfe ein Unrecht ist. Zwar galt dieser Grundsatz nie in zwischenstaatlichen Konflikten, und er wurde etwa zu Zeiten des Kalten Krieges auch durch westliche Geheimdienste immer wieder gebrochen, denn diese hatten wie James Bond die »Lizenz zum Töten«. Offizielle Politik war das jedoch nie. Barack Obama hat diesen Konsens jetzt öffentlich aufgekündigt. Und er wirkte dabei noch genau so sympathisch, menschlich und warmherzig wie im Wahlkampf gegen George W. Bush: »Yes, we can – Yes, we did!«

Die Figur, die Barack Obama am Montag abgab, sie hat Ähnlichkeiten mit einer TV-Figur – der des Special Agent Leroy Gibbs in der Fernsehserie »Navy CIS«. Gibbs klärt mit seinem Team nicht nur Mordfälle innerhalb der US-Marine auf, er tötet als Scharfschütze, befehligt Kommandoaktionen gegen islamistische Terroristen, überwacht Tötungsaktionen vor der Großbildleinwand in seinem Büro. Gibbs ist kein harter Hund, kein moralisch pervertierter Agent, der nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann, sondern einer, der tut, was im Kampf Gut gegen Böse »getan werden muss« – ohne Rachegelüste, aber immer mit den Opfern mitfühlend. Ein Mensch ohne Tränenkanal, abgebrüht. Der Inbegriff der Amoral.

Die Hexe ist tot, doch das Gute hat nicht gesiegt. Das müssen wir jetzt unseren Kindern erklären, denen wir bislang versicherten, dass Barack Obama im Vergleich zu seinem Vorgänger George W. Bush der moralisch bessere Politiker sei.

Wie erklärt man Kindern, dass Gretel etwas Unrechtes getan hat?

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