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Gefühlte Gerechtigkeit
Das Exekutionskommando gegen Osama bin Laden, der den Tod etlicher tausend Menschen auf dem Gewissen hat, löste in den USA eine Welle der Begeisterung aus. In Deutschland, wo glücklicherweise noch kein gravierender islamistischer Anschlag stattgefunden hat, sind die Reaktionen nicht so euphorisch. Aber sie zeigen, wie sehr sich die Gesellschaft in den letzten zehn Jahren verändert hat, wie stark sich Werte verschoben haben – seit die westliche Welt endgültig beschlossen hat, den Terrorismus mit Terror zu bekämpfen.
Dieser Wertewandel, der das Verständnis von Rechtsstaatlichkeit immer weiter aushöhlt, führt dazu, dass in etlichen Medien bestimmte Fragen, die doch den Kern des Geschehens berühren, überhaupt nicht mehr oder nur noch zaghaft gestellt werden. Die Frage etwa nach den völkerrechtlichen Grundlagen der Kommandoaktion wird kaum aufgeworfen, ebenso wenig wird erörtert, warum die USA eine Militäreinheit einfach so und ohne zu fragen in ein souveränes Land schicken, als sei es ihr eigens Hoheitsgebiet. Die Vokabel mag abgegriffen sein und manchem verstaubt erscheinen, aber sie passt: Hier agiert ein selbst ernannter Weltpolizist. Und die Bundesregierung spielt nach wie vor den Hilfssheriff.
Nach solchen Überlegungen kann man im deutschen Blätterwald lange suchen. »Osama Bin Laden ist tot – ›Sieg der Gerechtigkeit‹«, jubelt beispielsweise »Die Welt«, und die Anführungszeichen in der Schlagzeile verhüllen nur dürftig, dass es sich nicht nur um ein Zitat, sondern offenbar um die Meinung der Zeitung handelt. Ein Kommentator findet – weil Hinweise auf Bin Ladens Verbleib aus Verhören in Guantanamo Bay stammen sollen –, es habe »gute Gründe« gegeben, dieses Lager »zu errichten und nicht vorzeitig wieder zu schließen«. Ist nun, muss man fragen, der richtige Zeitpunkt, den Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf schon für gekommen sah? Oder finden sich neue Gründe zur Rechtfertigung einer Einrichtung, die mit Rechtsstaat nichts zu tun hat?
»Amerika bejubelt bin Ladens Tod«, meldet der »Tagesspiegel« auf Seite 1, auch die »Berliner Zeitung« erhebt die amerikanischen Triumphgefühle zur Schlagzeile. In einem Leitartikel des »Tagesspiegel« wird »der Westen« dafür gelobt, dass er im Kampf gegen den Terror bei zwei Kriegen – Afghanistan und Irak – »durchgehalten, Opfer gebracht, Nervenkraft bewiesen (hat). Die Taliban wurden verjagt« – spätestens an dieser Stelle werden Bundeswehrsoldaten im Hindukusch-Einsatz bitter auflachen, denen manches Opfer gern erspart geblieben wäre.
»Obama und Osama – der Terror hat seinen Meister gefunden«, schreibt ein Kommentator in der »Süddeutschen Zeitung« und hebt in diesem Zusammenhang »eine Politik der internationalen Selbstbescheidung« hervor, die Präsident Obama den USA verordnet habe. Das allerdings ist wohl eher frommer Wunsch als Realität angesichts der unvermindert geführten Kriege in Irak und Afghanistan. Die »Frankfurter Rundschau« konstatiert immerhin, dass die Killeraktion zwar ein »Gefühl von Gerechtigkeit« gebe, aber genau an den Werten kratze, die der Westen verteidigen wolle – oder zu verteidigen vorgibt, muss man hinzufügen. »Der Showdown von Abbottabad ist kein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit«, lautet das Fazit.
Nur wenige Zeitungen sagen unumwunden, was den Massenmörder Bin Laden ereilte: »Terroristen töten Osama bin Laden« titelt etwa die »junge Welt«, und das »Neue Deutschland« spricht von einer extralegalen Hinrichtung. Die USA haben ihren Todesstrafen-Paragrafen exportiert und exekutiert; der Einfachheit halber gleich ohne Verhaftung und Verhandlung. Das Ganze mit dem Segen und auf Anordnung des Friedensnobelpreisträgers, der sich eine bessere Wahlkampf-PR nicht wünschen kann. In der Tat: So handelt ein Weltpolizist.
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