Der Muezzin-Ruf wird lauter
In den Damaszener Vorstädten verschaffen sich Muslime mehr Gehör
Als das Ehepaar B.* vor Jahren nach Syrien kam, war Ma'adda- mieh noch klein und überschaubar. Doch mit der Flut von irakischen Flüchtlingen und Landflüchtlingen, die in Damaskus ihr neues Glück versuchen, zieht es immer mehr Städter hinaus, viele neue Häuser und Wohnungen sind in Ma'addamieh entstanden. Die ursprüngliche Bevölkerung sei konservativ und gastfreundlich gewesen, meint Frau B., als sie sich an ihre Anfangszeiten in dem Ort erinnert. Inzwischen ist es durch die Zugezogenen anonymer geworden.
Vor ungefähr zwei Jahren bemerkten sie erste Veränderungen in den Moscheen des Ortes, die Frau P. auf mehr als ein Dutzend schätzt. »Syrien ist ein säkularer Staat, Religion ist Privatsache. So wie Kirchen ihre Glocken läuten dürfen, darf der Ruf zum Gebet durch den Muezzin über Lautsprecher ertönen, mehr aber nicht.«
Doch bei den Übertragungen des Freitagsgebetes wurde immer häufiger vergessen, ob absichtlich oder aus Versehen, den Lautsprecher wieder abzustellen. Während des Ramadans, des islamischen Fastenmonats, konnten die Anwohner in der Nachbarschaft – ob sie wollten oder nicht – alle Gebete und auch die Hauptpredigten verfolgen. »Der Ort ist eindeutig islamischer geworden«, sagt auch Haitham, der in einem Nachbarort lebt und Ma'addamieh meidet, wegen der Muslimbrüder.
Unruhe ergriff Haitham, als er in der Nacht von Sonntag auf Montag heftiges Gefechtfeuer aus Ma'adamieh hörte, das über die Olivenhaine bis zu seinem Haus herüber hallte. Als er seinen Vater anrufen wollte, der wenige Häuser weiter wohnt, musste er feststellen, dass sowohl das Festnetz als auch die Mobilverbindung abgeschaltet waren, ein deutliches Zeichen für eine Militäroperation.
Zur gleichen Zeit, um 5.30 Uhr, wurde auch Herr B. von heftigem Gewehrfeuer aus dem Schlaf geschreckt. Bei einem vorsichtigen Blick durch das Fenster sah er die menschenleeren Straßen. Die provisorischen Barrieren, die die Jugendlichen aus der Nachbarschaft in den vergangenen Nächten tapfer bewacht hatten, um keine »bewaffneten Gruppen« in ihre Straße zu lassen, waren verwaist. Vom Geräusch der Feuerwaffen konnte Herr B. Pistolen, Gewehre und Kalaschnikows unterscheiden, die offensichtlich gegeneinander im Einsatz waren.
»Es war wirklich surreal«, meint Frau B., »die Vögel zwitscherten, die Hähne krähten und immer wieder diese Schießereien.« Gegen Mittag erst konnten sie die ersten Militärstreifen sehen, die von Haus zu Haus gingen und anhand von Listen, die sie mit sich führten, bestimmte Personen ausfindig machen wollten. Mitte April seien von verschiedenen Moscheen aus Proteste und Demonstrationen ausgegangen, die mit der Parole »Gott, Syrien, Freiheit, mehr nicht« offenbar eine Reaktion auf die Unruhen in der Stadt Daraa waren.
Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein. Es gab zwei Tote, Verhaftungen folgten. Der Beerdigungszug wurde zu einer neuen Demonstration, blieb aber unbehelligt. Unbekannte Bewaffnete begannen mit nächtlichen »Nadelstichen gegen das Militär«, erzählt das Ehepaar B. am Dienstag.
Vor zwei Wochen habe es dann eine Vereinbarung zwischen angesehenen Familien und der für den Ort zuständigen 4. Division der Republikanischen Garde gegeben, die unter dem Kommando des Präsidentenbruders Maher Assad steht. Die Familien verpflichteten sich, die jungen Männer im Zaum zu halten, das Militär zog sich zurück. Andere Jugendliche des Ortes hatten daraufhin eine Art Bürgerwehr gebildet und mit Nachtwachen versucht, ihre Wohngebiete von Bewaffneten freizuhalten.
Vergeblich. In der Nacht zum Montag begann alles von Neuem, so dass die Soldaten wieder ausgeschickt wurden und zahlreiche Bewaffnete, Unterstützer oder auch Angehörige festnahmen. Die Schießereien hielten bis in die Abendstunden an. Nach einer ersten Freischaltung, waren Mittwoch die Telefonleitungen wieder unterbrochen.
*Die Gesprächspartner baten um Anonymität.
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