Der Ei-Sprung
Auch wenn Bürger bei Wahlen oft wie dumme Hühner abstimmen – der Beitrag des Huhns zur demokratischen Kultur kann nicht genug gewürdigt werden: Das Gelbe vom Ei und der Politiker bilden einen Magnetismus innigster Art. Wenn ein Regierender aus der Käfighaltung des Parlaments zur Freilufthaltung des öffentlichen Auftritts übergeht und dort ins Gackern verfällt, löst sich im Publikum gern ein Ei aus den Halterungen der Selbstbeherrschung. Die starke Pointe fliegt dem schwachen Argument an den Hals, und es ist Unterhaltung angesagt. Vor 20 Jahren, in Halle, stürzte Kanzler Kohl auf einen Eierwerfer zu und gab mit seiner Explosion – ein wahrlich Getroffener – das unvergesslich grandiose Beispiel: Zorn erschafft lebendigste Skulpturen. Wut verwandelte einen Gezügelten in einen hochfahrenden Helden des Expressionismus. Der pathetisch unkontrolliert Ehrenrettung betrieb.
Die Künstlerin Simone Schicke erinnerte dieser Tage in Halle an Kohls große Szene. Passanten konnten, wenige Meter vom damaligen Tatort entfernt, rohe Eier auf Scheiben werfen. Ein Bild der Schlieren und farblichen Verwischungen. Kohls Seelenzustand damals?
Der Pfälzer Koloss erzählte uns mit seinem Rächer-Reflex, wie Charakter aus dem Gegenangriff erwächst. Kohl vollzog die Urhandlung jenes Schicksalsmechanismus, der aus antiker Vergangenheit herüberraunt: Erlittene Gewalt kehrt sich sofort um in die Welt, aus der sie kam. Da haben wir den Salat, sagten die Tragöden des griechischen Dramas. Daraus wurde der kleine Bruder Humanfortschritt: Eiersalat. hades
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.