»Eine Krise ist selten günstig für die Linke«

Francis Wurtz über die Krise, Europa und linke Kreativität

  • Lesedauer: 4 Min.
Der 1948 geborene französische Kommunist Francis Wurtz gehörte seit der ersten Direktwahl 1979 dem Europäischen Parlament an und war zehn Jahre Vorsitzender der dortigen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL). Am Sonnabend wird er auf dem Fest der Linken mit anderen Politikern über »Die Linke und die Krise« diskutieren. Mit ihm sprach für ND Uwe Sattler.
Francis Wurtz
Francis Wurtz

ND: Europa steckt in der Krise. Immer mehr Gelder müssen für »angeschlagene« Staaten bereit gestellt werden. War die Einführung des Euro ein Fehler?
Wurtz: Nicht der Euro ist der Fehler, sondern die Rolle, die man ihn spielen lässt. Die Ursache der Krise des gesamten kapitalistischen Systems ist die ständige Suche nach der größten und schnellsten Rentabilität. Das ist insbesonder in der Eurozone der Fall. Die Europäische Zentralbank tut alles, um »Investoren», unter denen viele Finanzspekulationen betreiben, anzulocken. Euro und EZB wirken so an der Vertiefung der Krise mit.

Die Linke in Europa hat von der Krise nicht profitiert. Fehlen ihr die Rezepte oder die Möglichkeiten, reale Politik mitzugestalten?
Eine Krise ist selten günstig für die Linke. Die Menschen sind irritiert und nicht selten verzweifelt. Dazu kommt die bittere Erfahrung, dass auch linke Kräfte eine antisoziale Politik betreiben. Die gegenwärtigen Proteste in Spanien sind ein Ausdruck dessen. Für eine andere Politik ist eine Änderung der europäischen Strukturen und der politischen Orientierung erforderlich. Linke Politik muss zum Ziel haben, dieses System vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dazu ist eine breite Aussprache in den EU-Mitgliedsstaaten nötig. Initiativen dazu gibt es. So haben in Frankreich 3000 Ökonomen zu einer Umgestaltung der EU aufgerufen. Und in Deutschland macht sich der DGB für eine Europäische Öffentliche Bank stark, die direkt von der EZB billige Kredite bekommen soll, um die Abhängigkeit der Sozialpolitik von den Finanzmärkten zu beenden. Die heutige Politik fortzusetzen, führt in eine Sackgasse.

Es gibt mit der GUE/NGL und der Europäischen Linken grenzüberschreitende Strukturen. Trotzdem scheinen sich die Linkskräfte vor allem mit ihren eigenen Staaten zu beschäftigen.
Dieser Eindruck ist leider nicht falsch. Umso wichtiger ist es, den Zusammenhang zwischen lokaler, nationaler und europäischer Politik aufzuzeigen und den Bürgerinnen und Bürgern Alternativen zur herrschenden Politik auf diesen Ebenen anzubieten. Dafür brauchen wir mehr linke Kreativität.

Bisher beschränkt sich die Zusammenarbeit der Linken vor allem auf Parteien. Ist das angesichts gestärkter sozialer Bewegungen und anderer Gruppierungen noch zeitgemäß?
Die Veränderungen der Gesellschaftsordnung und der Strukturen der EU verlangen einen schweren politischen Kampf, der ohne Organisation und ohne Mobilisierung der Bevölkerung nicht gelingen kann. Linke Parteien müssen den neuen sozialen Bewegungen offen gegenübertreten. Die Proteste in Spanien zeigen, dass sich die junge Generation ihre eigenen Wege des Widerstands sucht. Die Form, in der sich das Streben nach Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und Frieden ausdrückt, ist zweitrangig. Wo dieses Streben zum Ausdruck kommt, muss die Linke präsent sein.

EU-Europa ist als Wirtschaftsprojekt und Chance für Frieden und Verständigung in Europa entstanden. Warum können heute rechte Parteien mit dem Thema Europa Stimmen gewinnen?
Die Mehrheit bei den Europawahlen wählt weder links noch rechts – sie enthält sich. Aber unbestritten sind in mehreren Staaten rechtsextreme Kräfte auf dem Vormarsch, die die Enttäuschung der Menschen darüber nutzen, dass der Europäische Traum nicht in Erfüllung geht. Der Markt dominiert heute alles, von Werten wie Aussöhnung, Frieden oder Annäherung der Völker ist kaum noch die Rede. Solange sich die Linken nicht fähig zeigen, positive Änderungen der EU durchzusetzen, werden antieuropäische Populisten weiter an Boden gewinnen. Um links zu denken und zu handeln, brauchen die Menschen Hoffnung.

In Deutschland streitet die Linke teilweise heftig über die Existenzberechtigung der heutigen EU. Ist das in Frankreich auch so?
Ja, diesen Streit gibt es auch in Frankreich. Ein Teil der Linken ist offen antieuropäisch geworden. Zum Glück bleibt aber für viele die positive Erfahrung der Kampagne von 2004 und 2005 gegen die EU-Verfassung und für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Wir waren damals für Europa, aber gegen dessen neoliberale Grundlagen. Das gilt nach meiner Überzeugung immer noch.

Kann man die gegenwärtige EU ändern oder muss sie neu gegründet werden?
Beides. Man muss an diese Frage dialektisch herangehen. Änderungen an der derzeitigen EU sind nötig und möglich, aber sie dürfen nicht oberflächig sein, sondern müssen die Grundlagen betreffen. Das ist ein langer und komplizierter Prozess. Ich habe aber den Eindruck, dass diese fortschreitet.

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