»Wenn etwas passiert, liegen wir mittendrin«
Anti-Atom-Demo in Magdeburg bezeugt wachsenden Protest im Land
Eine Stunde vor Demonstrationsbeginn hat sich genau ein Atomkraftgegner direkt vor dem Ausgang des Magdeburger Hauptbahnhofs platziert. Die Fahne in den rot-gelben Farben der Protestbewegung noch zusammengerollt neben sich, schaut er mit suchendem Blick ins Innere des Bahnhofs. Wer kommt heute noch hierher? Erst einmal bestimmen die weiß-blauen Fans des FC Magdeburg, die über den Platz lärmen, das Bild. Nach und nach tauchen aber einige Anti-Atom-Sonnen auf und bewegen sich Richtung Universitätsplatz, wo um 13 Uhr die zentrale Demonstration Sachsen-Anhalts als eine von insgesamt 21 Protestveranstaltungen im gesamten Bundesgebiet starten soll.
Auf dem Platz sitzt man in noch relativ überschaubarer Runde gemütlich in der Sonne. Fahnen und Transparente werden präpariert, Bekannte begrüßt. »Hallo, wie sieht's aus? Kommst du auch?« erkundigt sich ein Junge noch schnell per Handy bei einem Freund. Ein Mann in Jeans und Hemd verteilt Flyer mit der Aufforderung, zu einem 100-prozentigen Ökostromanbieter zu wechseln, und fügt geschäftsmäßig hinzu: »Man kann auch Geld dabei verdienen. Wir suchen noch Mitarbeiter.« Ein anderer Mann begrüßt, kurz bevor es los geht, einen Bekannten und weist ihn auf den Markt der Möglichkeiten hin, der am Ende der Demonstrationsroute mit Informationsständen rund um das Thema Energie auf die Teilnehmer wartet. Wenn man aussteigen wolle, erklärt er, müsse man sich ja auch informieren, was es so für Alternativen gäbe.
Die Sachsen-Anhalter stecken schon mitten drin in der Energiewende. Über 35 Prozent des im Land erzeugten Stroms stammen aus erneuerbaren Energien. Deren Anteil hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht. In einem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und dem Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) durchgeführten Bundesländer-Ranking liegt Sachsen-Anhalt 2010 beim Ausbau und Engagement für erneuerbare Energien auf dem fünften Platz und damit unter den Spitzenreitern.
Angst vor dem Atommülllager Morsleben
Der Demonstrationszug setzt sich langsam in Gang. Er zieht vorbei an Geschäften, aus denen die Besitzer neugierig heraustreten, und vorbei an Straßencafés, in denen die Leute wegen des Lärms ihre Gespräche unterbrechen. Mit Trommeln und Rasseln sorgt eine Sambagruppe an der Spitze des Zuges für Stimmung. Sie ist extra aus dem Wendland angereist und wurde von den Teilnehmern der Veranstaltung begeistert begrüßt. Das stärkt den Rücken! Das Zwischenlager Gorleben liegt unweit der Grenze zu Sachsen-Anhalt. Spielt die Angst vor dem, was dort eingelagert ist, für den Protest in Magdeburg eine Rolle? »Es ist schwer, mit den Leuten überhaupt ins Gespräch zu kommen«, sagt eine Frau, die auf der Demonstration Flyer zum Thema Gorleben verteilt. »Vielfach wird einfach abgeblockt.« Ihr Flyer ruft zur Aktion »Gorleben 365« auf. Ab dem 14. August soll über ein ganzes Jahr hinweg Tag für Tag der Baustellenverkehr zum Endlagerbergwerk friedlich behindert werden. »Wusstest du eigentlich«, fragt das Papier die Sachsen-Anhalter, »dass schon Anfang der 80er Jahre erhebliche Zweifel an der Eignung des Salzstocks aufkamen? Dass bewusst Dokumente geschönt wurden, um Gorleben als Standort für geeignet erklären zu können?« Dennoch ist die Frau nicht ganz pessimistisch. »Auch wenn das für viele scheinbar weit weg ist, es tut sich etwas. Es gibt kleine Schritte, die zunehmend größer werden.«
Wichtiger als Gorleben, betont eine andere Frau im Demonstrationszug, sei in Sachsen-Anhalt aber das Atommülllager Morsleben. Dort lagern derzeit rund 37 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Müll. Seit 1998 gilt für das ehemalige Kalibergwerk zwar ein Einlagerungsstopp. Jetzt aber will das Bundesamt für Strahlenschutz das Lager endgültig verschließen. Die Menschen vor Ort bezweifeln, dass der Müll dort sicher lagert. Auch auf der Anti-Atom-Veranstaltung in Magdeburg sammelt eine Initiative, der Sonderfonds Morsleben, Geld, um sich mit unabhängigen Wissenschaftlern und Juristen für die Auseinandersetzungen im für November geplanten Erörterungsverfahren zu wappnen.
Für viele sei die Atomkraft zwar ein Thema, beurteilt eine andere Demonstrantin, die gemeinsam mit zwei anderen ein großes Banner trägt, die Proteste im Land. Es gäbe aber leider etliche, die sich nicht weiter damit beschäftigten. »Die sagen zwar, das ist Mist. Aber es tun noch zu wenig Leute etwas.« Woran das liegen könnte? Ihrer Ansicht nach, sei dies allgemein ein Zeichen der Zeit. Die Leute arbeiteten viel, kämen geschafft nach Hause und hätten einfach keine Lust mehr, sich mit solchen Fragen zu befassen. Die Befragung einiger Passanten, die dem Demonstrationszug nur zufällig begegnen, bestätigt diesen Eindruck. Ja, man wisse worum es gehe und heiße es auch gut, dass die Leute gegen Atomkraft auf die Straße gehen. Ihre Ansicht zur Atomkraft? »Könn'Se abschaffen.«
Die, die sich aufgemacht haben, um sich in Magdeburg am bundesweiten Aktionstag zu beteiligen, tun dies aber lautstark und bunt. »Ab-schal-ten« ertönt es immer wieder durch die Straßen. Und als Antwort darauf aus einer anderen Ecke der Menschenmenge »Sofort!«. Von der Rednerbühne herunter, an der die Demonstranten auf dem Friedensplatz ankommen, ruft die Landesvorsitzende des BUND Sachsen-Anhalt Undine Kurth mit Nachdruck nach Berlin: »Wir hoffen, dass ein wirklich starkes Signal von diesem Tag in Richtung Bundesregierung ausgeht und dass noch einmal sehr deutlich wird, was die Mehrheit in diesem Land will. Jetzt abschalten – endgültig und unumkehrbar!«
Die Energiewende hat schon begonnen
Organisiert wurde die Veranstaltung von einem Trägerkreis aus dem BUND Sachsen-Anhalt, der Evangelischen Kirche, den Grünen, der SPD sowie dem DGB und der IG Metall. Möglichst vielfältig sollen die Gruppierungen und Redner auf der Bühne sein, um deutlich zu machen, dass der Protest aus allen Teilen der Gesellschaft kommt. Begeistert korrigiert Undine Kurth nach kurzer Rücksprache mit einem Polizeisprecher die Teilnehmerzahl von 750 auf 1000 nach oben. Ist das viel? Ist das wenig? Auf dem Platz gibt es angesichts der Nachricht Applaus, Jubel und Pfiffe. Axel Weber von der IG Metall zeigt sich überrascht und zufrieden über die versammelte Menschenanzahl. »Wir müssten eigentlich 100 000 Leute hier sein«, widerspricht aber kurz darauf Cornelia Wilborn vom Anti-Atom-Aktionsbündnis Magdeburg, einem unabhängigen Zusammenschluss einzelner Personen. »Wenn irgendwo etwas passiert in Deutschland, liegen wir mittendrin. Die normale Bevölkerung muss begreifen, dass die Gefahr vor ihrer Haustür lauert.« Aber auch Cornelia Wilborn sieht eine Entwicklung in der Anti-Atom-Protestkultur. »Es passiert etwas in den Köpfen der Leute.« Vor allem nach Fukushima sei es wie ein Raunen durch die Bevölkerung gegangen und die Leute hätten sich spontan an den organisierten Mahnwachen beteiligt und angefangen, Fragen zu stellen. Wo stehen denn die Atomkraftwerke genau? Und woher bekomme ich eigentlich meinen Strom? Julia Wendenkampf, die als Stellvertretende Landesgeschäftsführerin auf dem Friedensplatz den Stand des BUND betreut, erzählt, dass die Leute seit Fukushima oft anriefen, um zu erfahren, wie sie ihren Strom wechseln und was sie insgesamt tun könnten. Außerdem hätten sich auch viele bestehende Initiativen des Themas angenommen und seien bereit, Geld für Aktionen zu geben.
Die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland streut ihre Proteste derzeit ganz bewusst über das gesamte Bundesgebiet. Statt wenigen Großveranstaltungen oder einer einzigen großen Sitzblockade bei den Castortransporten sollen an möglichst vielen Orten möglichst viele verschiedene Aktionen stattfinden. »Wir waren im Moment so ein bisschen erstaunt, was das heute hier ist«, sagten zwei Magdeburgerinnen, die vorübergingen. »Und wir haben gerade eben diskutiert, ob das was bringt.« Ihre Einschätzung hierzu? »Ja, jetzt, wo sowieso schon alle in Wallung sind, das wird was bringen.«
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