Fremde sind in Tivoli Gardens unwillkommen
Im Kingstoner Stadtteil ist ein Jahr nach dem Aufstand nur oberflächlich Ruhe eingekehrt
Auch Ende Mai 2011 patrouillieren noch immer bewaffnete Militärs und Polizisten durch die Straßen von Tivoli Gardens, von feindseligen Blicken der Bewohner verfolgt. Am Marcus Garvey Drive schauen skeptische Anwohner auf den Ausländer, der versucht Gesprächspartner zu finden. »Hau ab«, sagt einer kurz angebunden. »Hau ab, Joe.« Fremde sind in Tivoli Gardens nicht gerne gesehen, neugierige Ausländer noch weniger. Das Stadtviertel liegt ganz in der Nähe von Downtown Kingston, dem historischen Zentrum der jamaikanischen Hauptstadt. Und Aufforderungen wie die des rund 20-Jährigen sollten »Joes«, wie weiße Ausländer dort gerne gerufen werden, tunlichst befolgen.
Vor einem Jahr herrschte in Tivoli Gardens Bürgerkrieg. Tagelang war das wuselige Karree zwischen der Hafenschnellstraße und der Ausfallstraße ins nahegelegene Spanish Town No-Go-Area mit brennenden Barrikaden abgeriegelt. Bewaffnete Anwohner lieferten sich mit kriegsbewaffneten Soldaten und Polizisten stundenlange Schusswechsel, um die Festnahme von Christopher »Dudus« Coke, dem Paten von Tivoli Gardens, zu verhindern, der wegen Drogenhandels an die USA ausgeliefert werden sollte.
Mindestens 77 Menschen wurden getötet, Hunderte verhaftet, fünf Polizeistationen niedergebrannt und verwüstet. Über Kingston wurde der Ausnahmezustand verhängt. Bewohner von Tivoli Gardens sprechen noch heute über die sechswöchigen Unruhen vom »Blitzkrieg«.
Die Polizei behauptete später, Coke habe als Frau verkleidet und mit Hilfe eines Priesters versucht zu fliehen. Er habe sich gestellt, betonte »Dudus«, als er am 22. Juni hinter Gittern saß. Staatsmännisch erklärte der 42-Jährige: »Ich habe diese Entscheidung getroffen, weil sie, wie ich glaube, im Interesse meiner Familie, der Gemeinde von West Kingston und speziell von Tivoli Gardens und von ganz Jamaika ist.«
Viele der damals Festgenommenen sitzen noch in Untersuchungshaft und warten auf ihren Prozess. Amnesty International spricht von Folterungen der Festgenommenen. Eine Anzahl der Todesfälle seien »extralegale Hinrichtungen« und kein Resultat von Schusswechseln gewesen.
Es war ein tiefer Fall, den der Pate von Tivoli Gardens erlebte. Der Stadtteil gehört zum Wahlbezirk des derzeitigen Premierministers Jamaikas, Bruce Golding. Christopher »Dudus« Coke betrieb offiziell eine Firma, die Veranstaltungen organisierte. Gleichzeitig pflegte er enge Beziehungen zu den beiden politischen Parteien des Landes, der sozialdemokratischen People’s National Party (PNP), vor allem aber zur konservativen Jamaica Labour Party (JLP) von Golding und finanzierte deren Wahlkampf, wie die Tageszeitungen »Gleaner« und »Observer« übereinstimmend berichten.
Der pressescheue Eventmanager soll aber in Wirklichkeit der Boss eines kriminellen Netzes in Jamaika sein, das auch in den USA und Großbritannien operiere und schon von seinem Vater gegründet wurde. Seit Jahren bemühten sich US-Fahnder um Cokes Auslieferung. Vergeblich, weil die Justizbehörden des Landes eine Entscheidung immer wieder vertagten. Jahrelang habe die enge Verwobenheit zwischen »Dudus« und der politischen Klasse Jamaikas seine strafrechtliche Verfolgung verhindert. »Die haben gedacht, sie können das aussitzen«, sagt ein ausländischer politischer Beobachter. »JLP und PNP haben Angst gehabt, dass der Pate den USA-Behörden etwas über seine Beziehungen zu ihnen erzählt.«
Erst als das US-Außenministerium jamaikanischen Politikern drohte, sie auf die schwarze Liste der in den USA unerwünschten Personen zu setzen, die enge Kontakte zu Straffälligen unterhalten, und ihnen ihre Visa zu entziehen, gab die politische Kaste des Landes klein bei. Die Chance, das Problem des Paten von Tivoli landesintern zu regeln, war da längst vertan. Christopher »Dudus« Coke sitzt inzwischen in den USA in Haft, einen Deal mit der Justiz soll er abgelehnt haben und auf »unschuldig« plädieren.
Die Wunden vom Mai 2010 sind in der Innenstadt Kingstons noch zu sehen. Das zerstörte Polizeirevier in der Hannah Street wurde nicht wieder aufgebaut. Plakate kleben an den Wänden, Eisendiebe sind damit beschäftigt, die Gitter zu zerlegen und wegzuschaffen. Nachts traut sich keiner in die Umgebung. Eine Geisterstadt, versichern Bewohner dem »Gleaner«, in der sie wegen der Überfälle ihres Lebens nicht sicher seien.
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