Der Schutzstoff Poesie
Dem Lyriker Richard Pietraß zum 65. Geburtstag
Poesie und Erfahrung: eine seltsame Wechselgeschichte. Ein Gedicht kann Erfahrung aufbereiten, aber es kann auch auf Erfahrungen vorbereiten, es kann – obwohl schüchtern und schütter bleibend – doch Schuttmaterial gegen den künftigen Moment ausbilden, da der Schmerz kommt, der Zweifel, die tiefe Trübnis und die noch tiefere Verzagtheit. Wenn das alles auf den Menschen kommt, wird man immer auch auf Gedichte rückgreifen können, die uns vorbereitet haben. Poesie als Prophylaxe, »um im Augenblick des Ernstes gefasster zu sein«. So hat Richard Pietraß einmal den Grund seines Schreibens benannt.
Gefasster!, sagt er, nicht: gefasst. Das ist es, was den Parteigänger einer Sache vom Poeten unterscheidet. Der eine ist sich seiner sicher, der andere nicht. Der eine dichtet dem Weltengang eine Tugend an, er dichtet immer auch ab, wenn er dichtet – der andere dichtet schlicht und einfach aus Nöten, die unter Garantie, in welcher Form auch immer, dichter und dichter heranrücken. So kann man zu einer Ästhetik kommen, die Pietraß als Hoffnung artikuliert: »dass der Mensch der Stil sein möge«.
Dem Autor entstand ein Gedicht-Werk aus vielerlei Quellen. Schöne Uneinheitlichkeit. Spötter ist er und Romantiker. Reisender und Rumorender. Skeptischer Zwischenspieler und heiterer Endspieler. Und Wortspieler in Weibs- und Warngedichten. Der Dichter hat am »Willkürsystem« des Scheinsozialismus und an der »Offizierssprache der DDR furchtbar« gelitten, wie viele, aber er ist zäh und trotz allem freundlich geblieben, vor allem: geblieben.
Weil er nicht Zuschauer von draußen, sondern weit lieber »Laus im Staatspelz« bleiben wollte. »Ein Gefängnis schafft man nicht ab, indem möglichst viele aus ihm fliehen.« Pietraß – Sachse, Hilfspfleger, NVA-Grundwehrdienstler, studierter Klinischer Psychologe – wurde unbestechlicher Autor, mutiger Lektor, listiger Redakteur, aufsässiger Herausgeber – und nicht zuletzt Nachdichter mit solidarischem Sinn für Tapfere wie Sluzki, Zwetajewa, Sobolozki.
Manche nennen den Schritt zum freien Schriftsteller einen Sprung ins Wasser, Pietraß spricht von »politischer Entlassung« 1979 als Redakteur und Herausgeber im Verlag Neues Leben, dies brachte die Freiheit des Erwerbs, er sprang also nicht ins Wasser, er wurde geworfen, nicht mehr tragbar für die neuen Ufer, an denen sich das neue Menschenbild nach Parteibeschluss zu sonnen hatte. Die Titel seiner Gedichtbände wollten damals beziehungsreicher verstanden werden, als es heute scheinen mag: Notausgang. Freiheitsmuseum. Spielball.
Der Dichter sagt von sich, von 1989 an habe er drei Jahre lang »Gedichte geschwiegen« und sich »arbeits- und wortlos in die Büsche« geschlagen. Dass ihm die Sprache wiederkam, das »danke ich zunehmender Trauer jenseits glücklich gefallener Mauer«. Da ist er also wieder, der Dichter, dem das Erlebte den Bitterstoff liefert, und der übers Bedenkliche aber auch schreibt, weil alles noch schlimmer kommen kann. Und das Geschriebene ist also »erahnt als künftige Erfahrung, die ich mit Hilfe des Gedichts zu bewältigen suche«. Am heutigen Samstag wird Richard Pietraß 65 Jahre alt.
Richard Pietraß: Randlage
Die letzte Saat
Des Felds ist aufgegangen.
Ellenbogen
Vermessen das Land.
Pflöcke stückeln
Roggenschläge.
Zins- und Pferdefuß
Gehen zur Hand.
Am Rapsrain
Trapst die Nachtigall.
Die Säge singt
Im Holunder.
Die Bauern motten
Pflüge ein.
Dem Schafstall
Blüht ein Quellewunder.
Wohin ich Habnicht sehe
Sieht mich das Ende an.
Ich stehe und verstehe.
Wende sich, wer kann.
(1992)
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