Die Musikstunde fällt aus
Nach zehn Wochen Bildungspaket liegt die Antragsquote weit unter 30 Prozent
Zweieinhalb Monate nach der Einführung des sogenannten Bildungspaketes, mit dem Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) klassenbedingte Chancenunterschiede bei Kindern auffangen will, hat in Thüringen laut Landkreistag rund ein Drittel der bezugsberechtigten Familien einen Antrag gestellt. Das ist im Bundesvergleich noch ein Spitzenwert. Die »Süddeutsche Zeitung« berichtet aus bayrischen Landkreisen, wo noch nicht einmal für jedes zehnte leistungsberechtigte Kind ein Antrag gestellt wurde. In Berlin lagen zu Monatsbeginn Anträge für keine 15 Prozent der Kinder vor, in Mecklenburg-Vorpommern lag die Quote bei 20 Prozent. Und wie viele »Pakete« aus diesen Anträgen hervorgehen, ist noch lange nicht geklärt. Aus der Ruhrmetropole Essen wurde jüngst berichtet, dass von 40 000 eingegangenen Anträgen nur 500 bewilligt werden konnten. Die Formulare waren offenbar unverständlich.
Vielerorts gibt es Berichte, denen zufolge die Antragsquote gerade für bezugsberechtigte Kinder aus Einwandererfamilien, die in der Debatte vor dem Beschluss des Bildungspakets eine prominente Rolle gespielt hatten, unterdurchschnittlich ist. Und insgesamt werden offenbar weit überwiegend Zuschüsse zum Schulessen und zu Klassenausflügen beantragt, während Mitgliedsbeiträge für Sportvereine oder der Musikunterricht laut Thüringer Landkreistag kaum nachgefragt werden.
Dabei führt der Begriff »Nachfrage« in die Irre. Schließlich wurde das Prozedere als Umsetzung eines Karlsruher Richterspruchs ins Leben gerufen, das die systematische Nicht-Veranschlagung eben auch kultureller Teilhabe für Kinder von Niedriglohnarbeitern und Arbeitslosen beanstandet hatte. Das »Bildungspaket« ist kein Angebot des Ministeriums. Es ist ein höchstrichterliches Recht der Kinder, ausgelagert aus dem Regelsatz, weil man ihre Eltern als unzuverlässig abgestempelt hat. Der Schweriner LINKE-Fraktionschef Helmut Holter gehört zu den Politikern, denen bei aller Detailkritik dieser Punkt noch wichtig ist: »Das Bildungs- und Teilhabepaket wird den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht.« Als Grund für die Flaute gelten Informationsdefizite bei den Berechtigten und von Kommune zu Kommune abweichende Regeln. Unklarheiten gibt es weiterhin aber auch bei denen, die die Leistungen praktisch erbringen sollen – und willkürliche bürokratische Festlegungen. Lehrer zum Beispiel klagen darüber, dass es nach dem Gesetz möglich sei, bei akuter Versetzungsgefahr Nachhilfestunden zu beantragen. Schüler mit dauerhaft unterdurchschnittlichen Leistungen dagegen mittelfristig durch Hausaufgabenbetreuung zu fördern, werde nicht finanziert. Auch die nicht unwesentliche Frage, ob, wie und vom wem förderungsfähige Nachhilfelehrer zertifiziert werden sollen, ist vielerorts noch ungeklärt.
De facto ist nicht einmal die Beziehergruppe exakt eingegrenzt. So sind nach dem Bundesgesetz die Kinder von Asylbewerbern und von geduldeten Flüchtlingen nicht bezugsberechtigt. Einzelne Bundesländer – wie zuletzt Hamburg – haben in den Ausführungsbestimmungen aber beschlossen, auch Flüchtlingskinder zu beteiligen. Anderswo, etwa in Hessen, machen Menschenrechtsgruppen Druck in diese Richtung. In wieder anderen Ländern wie etwa in Bayern hatten einzelne Kommunen angekündigt, auf eigene Faust auch Kinder von Asylbewerbern zu berücksichtigen. Für Flüchtlinge hängt es also vom Zufall ab, ob der Nachwuchs Anspruch hat oder nicht.
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