Türkische Abgeordnete verweigern den Eid

Boykott belastet neues Parlament

  • Jan Keetman, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.

Die erste Sitzung des neu gewählten türkischen Parlaments begann am Dienstag mit einer schweren Krise, weil ein erheblicher Teil der Abgeordneten den Eid verweigerte oder das Parlament ganz boykottierte.

Zunächst hatte sich die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zum Boykott des Parlamentes entschlossen, weil ihr Abgeordneter Hatip Dicle aufgrund einer Vorstrafe nach der Wahl ausgeschlossen worden war. Fünf weitere Abgeordnete der BDP befinden sich darüber hinaus in Untersuchungshaft, weil sie Angehörige einer PKK-nahen unbewaffneten Terrororganisation sein sollen. Daher könnten von den 35 Abgeordneten der BDP nur 29 ihr Mandat wahrnehmen.

Die Vertreter der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), erschienen zwar zur Sitzung, verweigerten aber mit einer Ausnahme den Eid. Von den 132 CHP-Abgeordneten befinden sich der Journalist Mustafa Balbay und der Mediziner Professor Mehmet Haberal in Untersuchungshaft, weil sie verdächtig sind, der regierungsfeindlichen Organisation Ergenekon anzugehören. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu erwartet nun ein Signal des alten und sicher auch neuen Premiers Tayyip Erdogan, dass die beiden Parlamentarier aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Auch die dritte Oppositionspartei, die ultranationalistische MHP, hat einen Abgeordneten, der nicht aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Trotzdem nahmen ihre restlichen Abgeordneten an der Vereidigung teil.

Erdogan kritisierte den Boykott scharf. Die Parteien hätten gewusst, dass es Schwierigkeiten mit verschiedenen Abgeordneten geben würde, sagte er. »Konnten sie denn keine anderen Kandidaten finden?« Der stellvertretende Vorsitzende der CHP, Süheyl Batum, kritisierte dagegen die fortdauernde Untersuchungshaft der Parlamentarier. In ihrer Entscheidung, die Freilassung zu verweigern, hätten die Richter keine Begründung wie Flucht- oder Verdunkelungsgefahr genannt. Nach seiner Meinung haben die Richter auf Anweisung der Regierung gehandelt. Der ehemalige CHP-Vorsitzende Deniz Baykal bezeichnete die Fortführung der U-Haft als Missachtung des Wählerwillens.

Ganz leicht zu verstehen ist allerdings der Standpunkt der Opposition nicht. Einerseits kritisiert sie, dass die Regierung sich in die Justiz einmische, andererseits verlangt sie von Erdogan genau das, wenn er für die Freilassung der Abgeordneten sorgen soll. Ein Problem mit der Glaubwürdigkeit hat aber vor allem Erdogan, denn vor Jahren war er in genau der gleichen Lage wie heute Hatip Dicle. Damals half ihm selbst die CHP, sonst hätte er nie Ministerpräsident werden können. Gelöst werden könnte die Krise durch Entscheidungen übergeordneter Gerichte. Zudem ist aus Erdogans AKP zu hören, die Vertreter von CHP und BDP sollten erst einmal ins Parlament kommen, dort könnte man über alles reden und eine Lösung finden. Eine konkrete Zusage, dass man das Problem wirklich lösen wolle, ist das allerdings nicht.

Theoretisch kann Erdogan dank seiner absoluten Mehrheit auch dann problemlos regieren, wenn der größte Teil der Opposition die Mitarbeit im Parlament in der einen oder anderen Form verweigert. Sein Projekt einer neuen Verfassung wird aber dadurch belastet. Diese sollte schließlich durch einen breiten Konsens getragen werden. Auch mit weiteren Spannungen und sogar bewaffneten Auseinandersetzungen in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Landesteilen ist zu rechnen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.