Formale Gerechtigkeit nach 67 Jahren
Wehrmachtssoldaten wegen Massakern in Norditalien zu lebenslanger Haft verurteilt
Zehn Stunden mussten die Überlebenden, Familienangehörigen und zahlreichen Vertreter der betroffenen Dörfer und Provinzen am Mittwoch ausharren, bis die Richter ihr Urteil bekannt gaben. Doch das Warten sind sie gewöhnt. Insgesamt 67 Jahre hat es gedauert, bis die Kriegsverbrecher für die Ermordung ihrer Eltern, Großeltern, Geschwister und Freunde sowie die Zerstörung ihrer Häuser im Frühjahr 1944 bestraft wurden. Um 21 Uhr verkündete das Militärgericht von Verona endlich sein Urteil. Sieben der neun Angeklagten erhielten lebenslange Haftstrafen. Alle Massaker an 400 Zivilisten in den Apenninen, der Emilia und Toskana, die in dem Verfahren aufgearbeitet wurden, sind damit als Kriegsverbrechen anerkannt. Zudem wurde der deutsche Staat zu Schadenersatzzahlungen in Millionenhöhe verurteilt.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Soldaten der Fallschirm-Panzerdivision »Hermann Göring« den Tatbestand des besonders schweren Mords mit besonderer Grausamkeit an unschuldigen Personen erfüllt haben. Die Täter, heute zwischen 85 und 93 Jahren alt, wurden in Abwesenheit verurteilt. An keinem der mehr als 60 Prozesstage seit November 2009 sind die neun noch lebenden – von einst zwölf – Angeklagten erschienen und damit einer Verhaftung entgangen.
Trotz des Urteils müssen sie auch jetzt das Gefängnis nicht fürchten. Prozessbeobachter des Instituts zur Geschichte der Resistenza und zur Zeitgeschichte in Reggio Emilia (Istoreco) erwarten dieselben Abläufe wie bei den meisten anderen Verurteilungen wegen Massakern an der italienischen Zivilbevölkerung. Danach werden die Anwälte der Täter in Berufung gehen, was weitere Zeit kostet, die die Täter in Freiheit verbringen können. Selbst wenn die Strafen dann bestätigt werden, würden die Kriegsverbrecher nicht nach Italien überstellt. Denn Auslieferungen nimmt der deutsche Staat nur mit dem Einverständnis der Betroffenen vor. Auch Anträge, die Strafen in Deutschland zu vollstrecken, scheiterten. Eine Verurteilung durch deutsche Gerichte strebt die zuständige Staatsanwaltschaft in Dortmund ebenso wenig an.
Dennoch zeigten sich Prozessbeobachter und die Hinterbliebenen-Organisationen mit dem Urteil hoch zufrieden. »Es ist ein historisches Urteil«, sagte Italo Rovali, Vorsitzender des Vereins der Opfer von Cervarolo in Reggio Emilia, und fügte hinzu: »Vor allem wenn man bedenkt, dass die Zeugenaussagen entscheidend waren. Unsere Hartnäckigkeit hat gesiegt.« Neben den Zeugenaussagen von Überlebenden der Massaker nahe Modena, in dem Dorf Cervarolo sowie in Vallucciole bei Arezzo wurden die Soldaten durch Tagebuchaufzeichnungen, Wehrmachtsberichte und Abhörprotokolle überführt.
Matthias Durchfeld von Istoreco zeigte sich nach dem Urteil auch mit Blick auf die Frage von Entschädigungszahlungen erleichtert. Er hofft, dass das Urteil von Verona Auswirkungen auf den Prozess vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag haben wird. Dort klagt die Bundesrepublik gegen die Durchsetzung der Entschädigungsforderungen der Opfer und Hinterbliebenen von Massakern in Italien und Griechenland. Dies sei ein Grund dafür, dass die deutschen Kriegsverbrecher hierzulande nicht belangt werden. »Deutschland hat Angst vor den Kosten der Kriege der Zukunft«, so Durchfeld. Um die sogenannte Staatenimmunität zu erhalten, verzichte man auf Verfolgung der NS-Täter.
Damit scheint Deutschland Erfolg zu haben. Wie jetzt bekannt wurde, scheiterten vier griechische Staatsbürger mit ihrer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das Gericht stellte fest, dass die Europäische Menschenrechtskonvention kein Land dazu verpflichte, Wiedergutmachung für Unrecht oder Schäden zu leisten, die von ihren Vorgängerstaaten verübt wurden. Daher sei die Beschwerde gegen die Bundesrepublik nicht zulässig. Die Eltern der Kläger gehörten zu insgesamt 218 Menschen, die bei einem SS-Massaker 1944 im griechischen Distomo getötet wurden.
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