Karajan wäre nach dem ersten Titel von der Bühne gegangen
Sting präsentierte seine Hits beim 45. Montreux Jazz Festival in orchestralem Gewand
Das Konzert war seit Monaten ausverkauft und entsprechend hoch war auch die VIP-Dichte an diesem Abend in Montreux. Sting muss man mögen – dann folgt man dem Musiker wahrscheinlich überall hin. Mit "Every Little Thing She Does Is Magic" – der Police-Song hat auch 30 Jahre nach Veröffentlichung nichts an Charme verloren – startet die orchestrale Reise. Die Hauptperson zeigt – für den Abend zog er ein schlichtes T-Shirt einem Show-Outfit vor – eine beneidenswerte körperliche Fitness und fremdelt deutlich mit den Bochumer Symphonikern unter Leitung von Sarah Hicks. Besonders das Police-Material seines Werks verweigert sich den neuen Klangkleider und möglicherweise sind auch die Arrangements nicht mutig genug. Besonders beim Refrain wirkt es, als ob zwei verschiedene Ereignisse und deren Akteure sich auf der gleichen Bühne getroffen hätten.
Dem begeisterten Publikum sind solche Unstimmkeiten schlicht gleichgültig – der Sänger mit der Ausnahmestimme könnte auch seine Hits zur Ukulele präsentieren und fretischer Beifall wäre sein Lohn. Prägnanz und Wiedererkennungswert einerseits, allerdings fehlt seinem Gesang auf Dauer doch einiges an Bandbreite und Variantenreichtum. Jo Lawry darf nur ein paar Mal ihre stimmlichen Möglichkeiten voll entfalten und singt den Star dann regelmäßig mühelos an die Wand, sonst unterstützt die Backgroundsängerin effektiv den Star des Abends. Und der war nicht das Orchester – von Sting phonetisch als "Pokuma Symphony" angekündigt – sondern der Sänger mit den vielen Evergreens.
Bei "If I Ever Lose My Faith in You" kommt erstmals das auch im Fortgang spektakulärste Instrument zum Einsatz, die "harmonica". Bei all dem Bombast des Bochumer Klangkörpers schafft es geradedas billigste Instrument, das man laut Rod Stewart besitzen kann, Spannung und Atmosphäre zu liefern. Mit Stewart und Bryan Adams hatte Sting übrigens mal einen Riesenhit "All for Love" – und ein bisschen fühlte ich mich im Auditorium Stravinski denn auch an Stewarts "American Songbook"-Exkursionen erinnert. Will sagen, wenn Künstler ihren kreativen Zenit erreicht haben, greifen sie auf Klassiker zurück und interpretieren diese fortan oder sie nehmen sich ihre Erfolge vor und spielen diese neu ein. Beides muss nicht zwingend überzeugend ausfallen, führt aber zumindest bei Stewart zu gefüllten Geldbörsen und auch bei Sting scheint das Recycling zu funktionieren.
Besonders problematisch das Intro zum Hit "Russians", dessen dramatischer Blechbläsereinsatz an eine Bond-Titelmelodie gemahnte. Der Titel war 1985 mutig, vielleicht auch richtig und für viele Menschen sicher wichtig – aber dass auch ich damals einen offenkundigen Unsinn wie die Zeile "I hope the Russians love their children too" als ernstzunehmende Rockliteratur einschätzte, fiel mir am Konzertabend schwer zu glauben. Durch die bedeutungsschwangere Untermalung wurden die Klischees offenkundiger und zeigten einmal mehr, dass der Kalte Krieg auch an schrecklichen Kulturirrtümern wie etwa "Nikita" Schuld trägt. Wie gesagt, das Empfinden des Kritikers war in Montreux in deutlicher Minderheit – die meisten Zuhörer ließen sich leicht zum Mitsingen animieren und bei "Englishman in New York" setzte eine Klatschorgie wie bei Dieter-Thomas Hecks seliger "Hitparade" ein.
"Be yourself, no matter what they say" – Sting hätte mit Police ordentliche Rockmusik machen sollen. Gern auch bis heute – mir gingen beim Orchesterabend mit dem Sänger – dessen kantige Gesichtszüge mit den raspelkurzen Stoppelhaaren stark an Ferdinand Piech erinnerten – immer die Worte von John Lennon durch den Kopf: " The sound you make is muzak to my ears." Während neun von zehn Zuhörern vom Experiment des Abends überzeugt bis ergriffen waren, sprach mir ein Radiokollege aus dem Herzen. Er meinte trocken: "Karajan wäre nach dem ersten Titel von der Bühne gegangen." Doch mit "Moon over Bourbon Street" packte es mich denn doch – hier und an manch anderen Stellen stimmte dann doch alles und Sänger, Orchester und Publikum waren eins.
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