Ins Innen, ins Bodenlose
Gregor Sander erzählt von Aufbrüchen
Was diese Geschichten miteinander verbindet, das sind ihre Räume und Landschaften zum einen, das Personal zum anderen. Denn die Protagonisten aus Gregor Sanders neuem Erzählband stammen von der Ostseeküste, genauer noch: von jenem größeren, östlichen Teil der Küste, der in der DDR gelegen hat. Die Orte ihrer Herkunft heißen Güstrow und Rerik, Rostock, Hiddensee und Rügen; immer wieder spielt dabei die Geschichte hinein, offen oder nur ganz untergründig. Präsent bleibt die DDR allemal.
Es sind Geschichten übers Aufbrechen und Weggehen, Reisegeschichten, die davon handeln, dass Menschen nach etwas suchen, um der Unbehaustheit zu entkommen. In der Geschichte »Weiße Nächte« z. B. berichtet der Erzähler von einer Reise mit seinem Studienfreund Jakob, einem Segeltörn von Gdingen nach St. Petersburg, von dem man aber, abgesehen von Rückblicken in die Biografie der beiden Figuren, recht wenig erfährt. Im Ausgesparten, in den Lücken schlummern die Abgründe – in diesem Fall die (Existenz-)Angst und der Alkohol. »Wenn es leise ist um mich und leer. Und ich allein bin, obwohl das Haus voller Menschen ist. Dann schleiche ich von Bett zu Bett, um zu hören, ob sie alle noch atmen. Am liebsten würde ich sie schütteln, bis sie wach sind. Ich weiß dann, dass ich nicht schlafen kann. Also lege ich mich gar nicht erst hin, sondern bleibe im Atelier und trinke.«
Um Alkohol und Angst dreht sich auch die Geschichte »Gegenlicht«, die Erzählung eines Zwillingsbruderpaars. Der Erzähler erhält einen Anruf aus Finnland, er solle sich um seinen Bruder kümmern, ihn dort abholen; doch er findet schließlich nur noch die Leiche Viktors in einem angemieteten Bungalow. »Das fahle Tageslicht fällt seitlich an der zugezogenen Gardine vorbei in den Raum und ihm auf das Gesicht. Er hat die Augen halb geöffnet und sein Mund steht offen. Der Kopf ist an die Wand gelehnt … Er sitzt in einer Urinpfütze und auch die ist gefroren, bedeckt mit einer weißen Raureifschicht. Neben ihm liegt eine halbvolle Flasche finnischer Wodka.«
An einer Stelle, in der Erzählung »Stüwes Tochter«, worin der Protagonist, ein junger Musiker, sich in jene Anna verliebt, deren Vater eine Stasi-Karriere hinter sich hat, heißt es einmal bezeichnend: »Ich versenke mich … in mich, blende alles um mich herum aus und spiele wirklich nur, und manchmal frage ich mich, ob ich diese Fähigkeit meinem Leben in der DDR verdanke. Ins Innen gehen und das Außen nicht beachten.«
Ja, nach Innen geht der geheimnisvolle Weg, wissen wir von Novalis. Im Gefolge der Romantik ist von vielen Schriftstellern auch noch der damit verbundenen, weitergehenden Feststellung beigepflichtet worden, dass Mensch-Sein in der modernen Welt zugleich Einsam-Sein bedeutet. Nur manchmal gelingt dann der Rückzug, die Konzentration aufs Innere, aber nur ganz selten, nur dann, wenn die Figuren mit sich selbst identisch sind.
Aber – und das sind die häufigeren Fälle – was geschieht, wenn das Innere bodenlos ausschaut?! Davon sprechen viele Geschichten Sanders, wobei ihm ein Erzählton gelingt, der die Leser zwingt, sich von Banal-Alltäglichem zur Reflexion anstiften zu lassen. Erklärt, gedeutet, interpretiert wird hier nichts. Und warum auch? Robert Musil verdanken wir schon die Einsicht, dass ein Erzähler von dem berichtet, was er nicht weiß und worauf er sich eben keinen Reim zu machen weiß.
Gregor Sander: Winterfisch. Erzählungen. Wallstein Verlag. 182 S., geb., 18 €.
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