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Soziale Realität statt Sozialromantik

Die Unruhen sind keine bewussten Prozesse, doch sie haben ihre Wurzeln in der Politik

  • Utz Anhalt
  • Lesedauer: 3 Min.

In London brennen die Häuser, brennen die Autos, liefern sich Jugendliche Schlachten mit der Polizei, plündern Läden. Der Auslöser war die Erschießung eines jungen Mannes im Stadtteil Tottenham durch die Polizei; einer von über 300 Toten durch Polizeigewalt seit 1998, für die kein Polizist verurteilt wurde. Es ist bequem, die Gewalt auf der Straße als unpolitisches Plündern darzustellen. Und es ist ebenso lächerlich, den Aufstand im Getto als sozialen Widerstand zu verherrlichen. Im Unterschied zu den Protesten in Spanien oder Griechenland, Arabien oder Iran sind es keine kritischen und gebildeten jungen Menschen, denen die Zukunft gestohlen wird, die sich Kämpfe mit der Polizei liefern. Tottenham zeigt vielmehr den Abgrund der antisozialen Politik des Neoliberalismus: Kindersterblichkeit, Armut und Bildungsferne, die an Favelas in Brasilien oder Slums in Manila erinnern. Politisch bewusst sind die »Riots« in London nicht, deshalb aber nicht ohne politische Ursachen.

Die neoliberale Politik, das Diktum »Werde reich oder stirb auf dem Weg dahin«, wurde in keinem Land Europas so konsequent durchgesetzt wie in Großbritannien. Kaum ein Land hat eine so extreme Ungleichheit der Einkommen wie Großbritannien. Der Staat und mit ihm die Gesellschaft überließen Stadtteile einem sozialen Nichts. Es waren jene Viertel, deren Bewohnern die Möglichkeit fehlte, bei der räuberischen Aneignung fremden Eigentums per Hedgefonds, Investmentbanking oder ähnlichem mitzuwirken. In Tottenham trat an die Stelle von Sozialarbeit und staatlicher Sozialpolitik ein Vakuum. Jugendbanden übernahmen die Ordnungsfunktion. Überlebenstechniken wie Drogenhandel und Schwarzmarkt ersetzten die gestohlene Perspektive. Die Jugendlichen setzen die antisoziale Ideologie des Neoliberalismus direkt um und plündern Warenhäuser. Einen sozial fortschrittlichen Impetus hat das nicht, es handelt sich nicht um linke Sozialrebellen, sondern um das Versagen bzw. um die Nichtexistenz einer linken Perspektive.

Im Unterschied zu den früheren Aufständen der Schwarzen in Liverpool sind es auch keine »Rassenunruhen«. Die prekarisierten Afrobriten plündern gemeinsam mit dem »white trash« und Migranten aus Balkanstaaten. Beim Zusammenbruch der Finanzblase richtete sich ein reflektierter Aufschrei in der City of London gegen die Abzocker. Jetzt schlagen die Opfer des Neoliberalismus zurück, nicht als Sozialrevolutionäre, sondern existenziell: Mit ihren Plünderungen, ihren Überfällen auf Läden, ihrer Gewalt demonstrieren die Überflüssigen ihre Existenz, das, wozu eine antisoziale Politik sie gemacht hat. Da bleibt kein Raum für Sozialromantik, aber es ist die soziale Wirklichkeit.

Venezuela unter Hugo Chávez ist umstritten. Aber das Land ist Vorbild dafür, dass der Teufelskreis aus Terror und Blut, der Aufruhr der »Verdammten« gegen die etwas weniger Armen durchbrochen werden kann. In Lateinamerika gibt es eine schreckliche Tradition der Gewaltausbrüche der Ausgegrenzten, die sich vor allem gegen die untere Mittelschicht richteten. Nach den Toten beim »Caracazo« 1989 blieb die Macht der Oligarchien erhalten. In Venezuela entstand ein Bündnis mit dem fortschrittlichen Teil der Mittelschicht, das die Menschen gegen den Neoliberalismus mobilisierte.

Es gilt auch in Großbritannien, es gilt auch in Deutschland, die soziale Organisation der Menschen dem antisozialen Neoliberalismus entgegen zu setzen. Das erfordert Bildungsarbeit von der Pike auf: Die Gangs in Tottenham schießen sich auch gegenseitig wegen eines neuen Handys über den Haufen. Sie brauchen aber keine Handys und Waffen, sondern Ausbildung. Sie brauchen vor allem eine Gesellschaft, die sich als Gesellschaft versteht und die jungen Menschen nicht allein lässt.

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