- Kultur
- 50 Jahre Mauerbau
Es galt, aus der Not eine Tugend zu entwickeln
Egon Bahr über beidseitige Niederlagen, notwendiges Umdenken und die Politik der Entspannung
ND: Professor Bahr, wie wichtig ist der 13. August 2011?
Prof. Bahr: Der 13. August 1961 war bis 1989 der tiefste Einschnitt in der deutschen Nachkriegsgeschichte. In Westberlin haben wir diesen Tag als die größte Niederlage des Westens empfunden. Unsere Hilflosigkeit manifestierte sich in zwei Akten: Der erste war die große Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus am 16. August, der zweite Brandts Brief an Kennedy, in dem er den mächtigsten Mann der Welt ganz ungebührlich zu einer »Aktion« aufforderte. Die Mauer markierte zugleich den Beginn eines Umdenkens, das später Neue Ostpolitik oder Entspannungspolitik genannt wurde und die Rechte der Alliierten langsam aushöhlte.
Das ist die historische Bedeutung. Aber wie wichtig ist das Datum heute noch? Menschen erinnern sich lieber an das Ende eines Unglücks als an dessen Beginn.
Das ist richtig. Ich kann es heute Jugendlichen nicht verübeln, wenn der 13. August ihnen fern und merkwürdig anmutet.
Wurden Sie 1961 von der Grenzschließung wirklich überrascht?
Als die NATO im April 1961 in einem Kommunique nicht mehr vom Viermächtestatus in Berlin sprach, sondern nur davon, dass die Lebensfähigkeit der Stadt und ein freier Zugang gesichert sein müssten, war ich alarmiert. Ich ging zu Brandt und sagte ihm: »Das ist eine Aufforderung an die Sowjetunion, mit ihrem Sektor machen zu können, was sie wollen.« Aber ich ahnte keine akute Gefahr. Kurz vor dem 13. August gab es Militärkolonnen auf den Autobahnen im Osten, über die die drei westlichen Hohen Kommissare sich bei ihrem sowjetischen Konterpart in Potsdam erkundigten. Ihnen wurde versichert, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen, niemand werde die Rechte der Sieger berühren. Berührt waren, wie wir später erfahren mussten, auch nur die Interessen der »Eingeborenen«.
Willy Brandt hielt am Vorabend des 13. August 1961 eine Rede in Nürnberg, in der er sagte, dass »die Sowjetunion einen Anschlag gegen unser Volk vorbereitet«. Er sprach weiter davon, dass »die Maschen des Eisernen Vorhangs zementiert werden« könnten.
Brandt durfte den Menschen in Ostberlin doch nicht offen sagen: »Kommt, solange ihr noch könnt.« Er konnte aber auch nicht sagen: »Alles ist in Ordnung«. Deshalb sprach er von der Angst der Menschen in der »Zone«, wie wir damals noch sagten, in einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen und vergessen zu werden. Direkt danach fuhr er nach Hamburg, wir waren im Bundestagswahlkampf. Wir wussten nicht, dass an diesem 12. August noch einmal 3120 Menschen nach Westberlin geflohen waren. Wir wussten, dass Ulbricht ein Auslaufen der DDR für 20 Pfennig S-Bahn-Fahrt nicht zulassen konnte. Wir vermuteten, die Sowjets würden wahrscheinlich eine doppelte Kontrollkette zum Westsektor Berlins errichten, um so die Abstimmung mit den Füßen zu unterbinden. Über eine Mauer hatten wir nicht nachgedacht.
Walter Ulbricht hatte zwei Monate zuvor, am 15. Juni, auf einer Pressekonferenz gesagt: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten?« War das eine faustdicke Lüge oder ein Versprecher?
Das war wohl eine Freudsche Fehlleistung. Er log nicht absichtlich, um sich später der Lüge überführen zu lassen.
Mitte Juni 1961 stand der Bau der Mauer noch nicht fest. Chruschtschow hoffte, die Westmächte würden Ulbrichts Verlangen, der DDR die Lufthoheit zu gewähren, zustimmen und diese damit de facto anerkennen – womit auch das »Ausbluten« der DDR gestoppt werden könnte.
Ich kann aus meiner Erinnerung nur sagen, dass wir Ulbrichts Wort nicht ernst genommen haben. Sicher hätte Ulbricht sich gern von der Sowjetunion die Lufthoheit und andere Siegerrechte übertragen lassen. Aber Chruschtschow und Kennedy waren sich völlig einig, dass sie sich in der weiteren Entwicklung nicht von Ulbricht abhängig machen wollten. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass die Androhung Chruschtschows, mit der DDR einen Friedensvertrag abzuschließen, eine Chimäre war.
Manche Zeitzeugen meinen, ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben. Sehen Sie das auch so?
Nein. Und das ist eine gefährliche Hypothese. Kennedy hatte in seiner Antwort auf Brandts Brief beteuert, niemand wolle Krieg. Das schloss die Sowjetunion ein. Der US-Präsident bestätigte ihr Friedenswille, zumindest Kriegsunwilligkeit. Der Kern der erst stillen, später offenen Vereinbarung zwischen West und Ost war, in Berlin darf nichts unkontrolliert passieren. Als die beiden Weltkriegshelden McCloy und Konjew im Oktober 1961 in der Friedrichstraße ihre Panzer gegeneinander auffahren ließen, zogen sie sie gottlob wieder zurück. Und als unsere fabelhaften Studenten zeigen wollten, dass sie wie ihre algerischen Kommilitonen mit Plastiksprengstoff umgehen können, mussten ausgerechnet wir unsere Polizei zum Schutz der Mauer einsetzen. Das war eine bittere Weisung der Westmächte.
Haben Sie als Pragmatiker ein gewisses Verständnis für den Mauerbau, weil er aus Sicht der DDR-Führung den zweiten deutschen Staat erhalten sollte?
Ich habe in meinem Leben gelernt, mich mit Tatsachen zu befassen, auch wenn sie mir nicht gefallen. Niemand konnte über den Mauerbau glücklich sein. Aber die Mauer war nun mal Fakt, wir mussten lernen, damit umzugehen. Kennedy sagte: »Wer den Status quo ändern will, muss ihn anerkennen.« Wir richtig das ist, wurde uns bewusst, als wir in unserer Friedens- und Entspannungspolitik versuchten, diese Einsicht auf kleiner Flamme umzusetzen.
Sie werteten den Mauerbau als Niederlage für den Westen. Auch für den Osten?
Ja, vor allem für den Osten. Eine Idee, die auf Weltgeltung angelegt war, überschritt damit ihren Zenit. Ich habe damals meine Angst vor der kommunistischen Ideologie verloren. Ein System, das die eigenen Menschen einsperrt, hat keine große Anziehungskraft mehr. Das Einzige, was es noch zu fürchten galt, waren die Panzer und Raketen, die militärische Stärke der Sowjetunion und des Warschauer Paktes. Darauf mussten wir uns nun konzentrieren.
Was Sie mit Ihrem Konzept »Wandel durch Annäherung« versuchten.
Meine Rede vor der Evangelischen Akademie in Tutzing war ein Reflex auf Kennedys Rede drei Wochen zuvor an der FU, in der er deutlich gemacht hatte: Die Entspannung muss weitergehen. Wir konnten die Mauer nicht wegbekommen, also mussten wir überlegen, was zu tun ist, damit sie Risse erhält. Ich hatte in Tutzing noch kein Konzept, sondern nur einen methodischen Hinweis: »Wenn ich etwas will, muss ich mich dem zuwenden, von dem ich es kriegen kann.« Ein richtiges Konzept wurde daraus erst zu meiner Zeit im Planungsstab des Auswärtigen Amtes 1967 bis 1969.
Da bereiteten Sie die Gespräche zum Moskauer Vertrag 1970 und den weiteren Ostverträgen vor.
Ja, generalstabsmäßig, so dass ich zum Teil schon wusste, was Gromyko fragen würde, bevor er den ersten Halbsatz vollendet hatte. Als er über Berlin reden wollte, sagte ich: »Kann ich nicht, dazu habe ich keine Kompetenz. Das müssen Sie mit ihren drei westlichen Kollegen bereden.« Moskau konnte von uns auch nicht die völkerrechtliche Anerkennung der DDR verlangen. Und musste sich auch darin revidieren, dass alle Grenzen in Europa unantastbar seien. Wir haben uns schließlich geeinigt, dass Grenzen nur in gegenseitigem Einvernehmen geändert werden können. Diese Formel wurde dann auch wörtlich in die Schlussakte von Helsinki 1975 übernommen. In Moskau, Paris, London und Washington war man nunmehr überzeugt, die »deutschen Querelen« endlich los zu sein. Denn das wird nie passieren, dass die Grenzen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in gegenseitigem Einvernehmen verändert oder gar aufgehoben werden. Die deutsche Frage verschwand von der internationalen Tagesordnung. Es gab danach keine ernsthafte Aktion mehr, weder vom Westen noch vom Osten, sie zu aktualisieren.
Die Mauer zu beseitigen, so stellten Sie rückblickend fest, war bis 1989 nur eine propagandistische Forderung, keine politische. Haben Sie das zuweilen beklagt?
Ich bin doch nicht verrückt. Ich habe in einem Interview in den 60er Jahren gesagt, das sei eine sympathische Forderung, aber völlig irreal. Denn wenn das im »Neuen Deutschland« steht, sind am nächsten Tag die Leitern in der DDR ausverkauft. Wenn es kein Risiko mehr ist, über die Mauer zu gehen, dann fällt der Grund ihrer Errichtung weg. Das wussten natürlich auch die Sowjets.
Der Bau der Mauer war für die DDR ein Wirtschaftsanreiz; Ulbricht konnte wirtschaftliche Reformen in der DDR angehen. Westberlin hingegen erlebte ein wirtschaftliches Desaster: Fachkräfte, Lehrer und Ärzte aus Ostberlin fehlten plötzlich und viele Menschen verließen den Westteil der Stadt in Richtung Bundesrepublik.
Das, was unmittelbar nach der Grenzabriegelung passierte, war wirklich schrecklich. Weltunternehmen verlegten ihre Firmensitze von Westberlin nach Bayern, Schering blieb als einzige Ausnahme. Grundstücke und Immobilien waren zu Schnäppchenpreisen zu ergattern. Wir haben im Senat einige Verrenkungen gemacht, damit die Zahl der Einwohner in Westberlin nicht unter zwei Millionen sank, das war eine magische Zahl. Deshalb war uns jeder willkommen, der kam, einschließlich der Wehrunwilligen. Die realen wirtschaftlichen Verluste, die die Stadt bis heute nicht wettmachen konnte, versuchten wir durch kulturelle Ausstrahlung zu überdecken. Das ist uns gelungen, und davon profitiert Berlin heute noch.
Klingt fast so, als seien Sie den Mauer-Erbauern auch dankbar?
Natürlich nicht. Man wird nicht zum Befürworter von Not, wenn man versucht, aus der Not eine Tugend zu entwickeln. Deutschland war de facto dreigeteilt: die Bundesrepublik, die DDR und Berlin. Deutschland hatte als einziges Land seine nationale Identität verloren und wir haben sie bis heute nicht zurückgewonnen. Es gibt kein Bewusstsein, was deutsche Identität ist. Helmut Kohl proklamierte als oberstes Ziel nach der staatlichen Einheit, die innere Einheit zu erreichen, was Versöhnung einschließt. Das ist bis heute nicht erreicht.
Es wird ja auch genug getan, um diese Versöhnung zu vereiteln.
Darin sind wir uns wahrscheinlich sogar einig.
Hat die Linkspartei – in der die PDS aufgehoben ist – noch eine Bringschuld in der Aufarbeitung der Geschichte?
Nein. Alles Wesentliche ist gesagt worden, auch wenn es kaum zur Kenntnis genommen wurde. Wie lange soll denn alles immer und immer wiederholt werden?
Sie haben 1985 gegen Schachweltmeister Garri Kasparov gespielt. Wie lang ging die Partie?
Das weiß ich nicht mehr. Er spielte an mindestens 20 Brettern simultan. Ich hatte genügend Zeit, mir meinen nächsten Schachzug zu überlegen. Es hat mir jedoch nichts genutzt.
Ist Politik mit Schach vergleichbar?
Politik ist viel komplizierter. Vernünftige Politik kennt nicht nur weiße und schwarze Felder. Und verantwortlungsvolle Politiker vermeiden Bauernopfer. Dies jedenfalls ist stets mein Credo und das von Willy Brandt gewesen.
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