Väter der hastigen Währungsunion
Ein neues Buch beschäftigt sich mit dem Wirken von Horst Köhler und Thilo Sarrazin in den Jahren 1989 und 1990
Es ist nur eine Fußnote der Geschichte; doch die Vorarbeit zweier Männer legte den Grundstein für die weitgehende De-Industrialisierung Ostdeutschlands. Die Namen der beiden Finanzexperten: Horst Köhler und Thilo Sarrazin. Der eine sollte es später zum Chef des Internationalen Währungsfonds und schließlich zum Bundespräsidenten bringen. Während der andere lange Jahre als Berliner Finanzsenator die Fäden zog und nun als Privatier sozialdarwinistische Thesen unters Volk bringt. Der Hamburger Publizist Otto Köhler hat dem Treiben der beiden in den Wendejahren ein Buch gewidmet, dass er am Donnerstag zusammen mit LINKE-Fraktionschef Gregor Gysi in Berlin der Öffentlichkeit vorstellte.
»Die große Enteignung« erzählt die Geschichte einer Liquidation. Der Liquidation einer Volkswirtschaft, die von der Treuhand im Jahre 1990 auf »600 Milliarden D-Mark« geschätzt wurde. Nach fünf Jahren »waren daraus 275 Milliarden D-Mark Schulden geworden«, wie Köhler schreibt. Doch wie konnte es soweit kommen?
Der Publizist Köhler hat zwei Hauptverantwortliche ausgemacht – Horst Köhler und Thilo Sarrazin. Beide arbeiteten zu dieser Zeit im Bundesfinanzministerium: Der eine als Staatssekretär, der andere als Referatsleiter für »Nationale Währungsfragen«. Bereits am 10. November 1989, nur einen Tag nach der Maueröffnung, legten Staatssekretär Köhler und Referatsleiter Sarrazin dem Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) ein Papier vor, in dem es eindringlich hieß: »Wir müssen diese historische Stunde nutzen.« Ursprünglich, so erinnerte sich Horst Köhler später, war eine stufenweise deutsch-deutsche Integration geplant. Doch der ehrgeizige Referatsleiter Sarrazin hatte bereits am 21. Dezember einen aggressiveren Plan entwickelt, der »den Durchmarsch zur Einheit« vorsah, wie Otto Köhler schreibt. Sarrazin gab später zu Protokoll, dass dieser »Lösungsweg« die »Wirtschafts- und Währungsunion zum frühestmöglichen Zeitpunkt« bringen sollte. Und am 9. Januar 1990 empfahl Sarrazin »die Aufnahme der DDR als wirtschaftspolitischer Pflegefall«. Sarrazins Plan gedieh weiter und Ende Januar konnte er ein Papier vorlegen, dass die unverzügliche Einführung der D-Mark in der DDR »im Austausch gegen Reformen« forderte. Zu diesen Reformen zählte das SPD-Mitglied ausdrücklich auch das »Freisetzungspotenzial«. So ebnete der Autor von »Deutschland schafft sich ab« den Weg für die Abschaffung der DDR und ihrer Volkswirtschaft.
Der Konsequenzen seines Plans war sich Sarrazin voll bewusst: Er rechnete mit »Freisetzungen im Umfang von ca. 35 bis 40 von Hundert der Industriebeschäftigten«, um den in Westdeutschland üblichen »Anteil der Industriebeschäftigten« zu erreichen. Der Sozialdemokrat erwartete, dass durch die vorschnelle Währungsunion mehr als ein Drittel aller in der Industrie beschäftigten DDR-Bürger ihren Job verlieren würden! Die sozialen Folgekosten blendete Sarrazin weitgehend aus. Ebenso wie Kanzler Helmut Kohl. LINKE-Fraktionschef Gregor Gysi, der neben Otto Köhler auf dem Podium saß, verwies auf die politischen Begleitumstände. Kohl sei »auf dem Tiefpunkt seiner Popularität« gewesen, so Gysi. Die Wiederwahl im Dezember 1990 verdankte Kohl nur der schnellen Einheit. »Die Lösung eines politischen Problems diktierte damals die ökonomische Lösung«, betonte Gysi. Entgegen aller Warnungen setzte Kohl die Konzepte der Herren Köhler und Sarrazin um.
Gysi kritisierte die in Otto Köhlers Buch vertretenen Thesen über den Einfluss der Westdeutschen auf den Anschlusswillen der DDR-Bürger als »zu verschwörungstheoretisch«. Sicher habe es solche Versuche gegeben, doch die Ostdeutschen wünschten sich »Reisefreiheit, eine Währung, die was wert ist, und ein breiteres Warenangebot«. Vielen erschien die Einheit als der direkteste Weg. »Arbeitslosigkeit konnte man sich gar nicht vorstellen.« Doch schon bald nach dem Beitritt sollten Millionen erfahren, was Sarrazin mit »Freisetzung« meinte.
Otto Köhler: Die große Enteignung, Verlag das Neue Berlin 2011
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