Der Nomade und die Meisterin der Scherbenstärke
Else Gold und Wolfgang E. Herbst trennen nicht zwischen Kunst und Leben
Es zieht im Eingang des Messezelts, unruhig fährt der Wind unter jedes lose Blatt. Mainz, Minipressenmesse, 2011: Wer noch an die subversive Kraft des gedruckten Wortes glaubt, ist hier, auf der Buchmesse der Kleinverlage, richtig. Hier gibt es handgesetzte Bücher, schräge Prints von Kleinstverlagen, viel Kunst, ein bisschen Kunstgewerbe. Und bei jeder der zweijährlich stattfindenden Messen wird der V.O.Stomps- Preis verliehen, benannt nach dem Gründer der berühmten Eremitenpresse, an dessen Arbeit sich seit den 1960er Jahren eine ganze Bewegung von Hand- und Selberdruckern orientiert. Else Gold hat den Preis noch nicht bekommen. Tiefer im Zelt, im Gedränge, wo man die Sonne überm Textildach spürt, verkaufen sie und Wolfgang E. Herbst kleinformatige Zeitschriften und in sackgrobes Papier gebundene Bücher. Seit 2005 kommen sie gemeinsam zur »Minipresse«. Herbst hatte eigentlich schon 2003 nicht mehr hier sein wollen, kam doch, saß zeichnend hinter dem Verkaufstisch, die Mappe vor sich wie einen Schlagbaum. Gold hatte ihren Platz schräg gegenüber, beim Viktoria Verlag Meißen. Und nicht bloß, weil alle sich bei solcher kleinen Messe schnell kennenlernen, sondern weil sie einen so genauen Blick auf seine Arbeit warf und so kluge Worte fand, dass er sich begriffen fühlte, wurde das der Anfang ihrer gemeinsamen Kunst- und Lebensgeschichte.
Zeitschriften aus der Zünderfabrik
Viel Zeit haben sie nicht verloren: Seit Februar 2004 bringen sie in Meißen gemeinsam das »Zündblättchen. Überelbsche Blätter für Kunst und Literatur« heraus, anfangs mit Golds damaliger Partnerin vom Viktoria Verlag. Im »Zündblättchen« kommen zeitgenössische Literatur und Grafik auf schlichtem Gebrauchspapier zusammen, immer gibt es eine Autorin oder einen Autor und einen bildenden Künstler, eine Künstlerin. Ein Part muss »elbsch« sein, also aus Sachsen kommen, der andere »überelbsch«, von jenseits der Elbe, außerhalb Sachsens. »Überelbsch« reicht mittlerweile durch alle Bundesländer, nach Polen, Frankreich und sogar Australien. Der Name des Blättchens geht auf die Bickfordsche Zünderfabrik im Meißner Goldgrund zurück. Hier wurden von 1844 bis 1918 Zündschnüre für Sprengungen im Bergbau hergestellt. Das Dekor der Zeitschrift greift das Motiv jener Zündplättchen auf, die Kinder mit einer Spielzeugpistole oder den Fingernägeln zu Knall und Funkenschlag bringen. 44 Hefte sind bereits erschienen, Gedichte, Prosa, Krimis, Science Fiction, dazu Grafiken, die in Technik und Stil variieren. Für Herbst sind sie ein »Transportmittel für Kunst«, groß sei der Interessentenkreis darum nicht. Gold jedoch, die die Hefte gestaltet, druckt, im Abo vertreibt und auf Grafikmärkten verkauft, erzählt, dass man sie kennt und nachfragt, wenn ein Heft sich verspätet. Ihr kommt es auf Kontakt und Kommunikation an, »dass etwas zusammenpasst, obwohl die Künstler sich zuvor nicht kannten«. Von ihrem Schreibtisch aus überblickt sie das Gelände der vormaligen Zünderfabrik. Gleich zu Anfang sind sie auf die leerstehende Werkstatt gestoßen, in der beide heute leben und arbeiten, eine Fügung.
Ich bin ein Nomade
Ein »zuhausenes Stück Fremde« nennt Wolfgang E. Herbst Meißen. »Ich bin nicht angekommen, fühle mich aber einigermaßen sicher.« Nicht immer in seinem Leben hat er sich sicher gefühlt, geschweige denn angekommen. Der 1935 im niederschlesischen Weißstein (Bialy Kamien) Geborene verließ sein Mutterhaus mit zehn. Bei polnischen Bauern fragte er nach Arbeit. Auch diese Leute waren arm, kreuzunglücklich, umgesiedelt aus jenem Galizien, das zu vielen Reichen gehörte, nun zur Sowjetunion. Zur Schule ging er nicht mehr, sondern hütete die zwölf Kühe der Familie, arbeitete, was anfiel. Manchmal besuchte er die Mutter. 1948, der Vater war »heimgekehrt«, wurden sie dann doch aus Polen ausgewiesen. Sie kamen ins Erzgebirge, der Vater arbeitete im Uranbergbau der SDAG Wismut. Erneut lief der Junge weg, zu Fuß ins Münsterland. Später fanden auch die Eltern dort Wohnung und Arbeit. Ein paar Jahre noch ging er zur Schule. »Wolfgang, den Dreisatz verstehst du doch nicht, geh raus, zeichne die Kirche«, sagte manchmal der Lehrer, der es gut mit ihm meinte. Sonst meinte es kaum wer in dem katholischen Dorf gut mit ihm: »Die Leute hatten noch nie einen Protestanten gesehen, die dachten, wir kämen aus Erdlöchern«, man rief ihn »Barbar«.
Er lernt Bäcker, verträgt den Mehlstaub nicht, lernt Schriftsetzer. Das erste Handwerk hinterlässt ihm die Fähigkeit, schlesischen Streuselkuchen zu backen, dank dem zweiten vermag er, Bücher selbst zu produzieren. Über 60 sind es heute, »Bündelungen« nennt er sie. In München studiert er Gesang, finanziert durch nächtliches Korrekturlesen bei der »Süddeutschen«. Er heiratet eine »Beamtentochter aus Bonn«, ein Kind kommt. Als er, überlastet von Studium und nächtlicher Arbeit, zusammenbricht und ins Krankenhaus gebracht wird, holen die Schwiegereltern Frau und Kind einfach ab. Das Scheidungsurteil wird mit der Post zugestellt. Das ist der Anfang der 1960er Jahre.
Berlin, danach Münster. Er lebt vom Korrekturlesen. In Berlin geht er abends zu Fuß von Charlottenburg nach Rixdorf, wo der Dichter Günther Bruno Fuchs seinen Kreis hat. Es gibt Verbindungen, ein Außenseiter bleibt er doch. 1964 schreibt er das Buch »Kehr die Straße glücklicher«, das beginnt: »Gott verzeih meiner Armut./ Dieser Winter ist lang./ Der andre war auch lang./ Dieser ist länger./ Gott verzeih meiner Armut.« Keine Metaphern sind das, sondern die Abseite des Wirtschaftswunders. Es fügt sich, dass er den Text in Stomps' Eremitenpresse setzen kann. Der Verleger ist beeindruckt, ihm missfällt nur ein »Beamtenschwein«, das im Buch geistert. Es muss eine filmreife Szene gewesen sein, wie sie einander gegenüber- saßen und stritten. Stomps gibt nach, das Schwein bleibt. Doch so verbaut man sich Chancen.
Dann wieder hat Herbst Glück, 1972 wird er an der Kunstakademie Düsseldorf angenommen, 1976 Meisterschüler bei Rolf Sackenheim. Sein erstes Zuhause sei die Akademie gewesen: »Ich hatte ein Recht, dort zu sein.« Die Gefährtin aus der Münsteraner Zeit begleitet ihn und wird auch nach der Trennung sein Schutzengel bleiben bis heute, »mehr als eine Mäzenin, eine Muse, ein Wahnsinnsglück im Leben«.
Glück ja – Sesshaftigkeit nicht. Er lebt im Auto, reist zunächst im deutschsprachigen Raum. Ende der 1980er Jahre fährt er nach Rumänien, malt in den Karpaten, verkauft seine Aquarelle in Deutschland, pendelt so drei Jahre. »Ich habe mich so wohl gefühlt, trotz des gestrengen Kommunismus', trotz des Elends. Ich kam mit den Rumänen gut zurecht, mit den Hirten, den Bergen.« Sie nennen ihn »Pictorul«, Maler. Ein Ring habe sich geschlossen, die Landkarte zeige ja, dass das Waldenburger Bergland, aus dem er stammt, eben der allerletzte Ausläufer der Karpaten sei. Noch eine Ehe, noch ein Kind, ein Häuschen sogar in Bayern. Auch den Stomps-Preis bekommt er, 1995. Wir nähern uns der Gegenwart. 2003 trifft er Else Gold. Da ist dieses tiefe Verstehen, unheimlich, unglaublich. Welche Ehepartnerin würde sich so etwas gefallen lassen? Es ist, als hindere er sich selbst am Zuhausesein. Und die ganze Zeit über entsteht eine Fülle von Arbeiten, gespeist von einer Energie, die er sich als gelb leuchtende Flamme übers Haar malt.
Mich reizt der Widerspruch
»Wir sind beide aus dem Osten«, sagt Else Gold, »das verbindet uns.« Aber sie sei ein sesshafter Mensch. »Wenn ich die Welt nicht in mir habe, finde ich sie woanders nicht.« 1964 im Erzgebirge zur Welt gekommen, habe sie ihre lungenkranke Mutter acht Wochen lang nur durch eine Glasscheibe sehen dürfen, im Grunde also gar nicht. »Da habe ich wohl begriffen: Du musst dich auf dich selbst verlassen.« Als sie aus dem Krankenhaus kamen, sei ihr Großvater die erste Bezugsperson gewesen. Gut möglich, dass Herbst sie an ihn erinnerte, 2003. Die erzgebirgischen Wurzeln seien ihr Grund, ihre Sicherheit. »Bei Wolfgang gibt es immer diesen Bruch, dieses Wegmüssen. Ich bin einfach gegangen.« Sie studiert an der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm, wird Formgestalterin in der Porzellanfabrik Reichenbach in Thüringen und findet dort ihr bevorzugtes Material. 1999 bis 2003 arbeitet sie in der sonst so traditionellen Manufaktur Meißen unter einem aufgeschlossenen künstlerischen Leiter, der auch Objekte und Installationen zulässt.
Was sie am Porzellan am meisten interessiert, sind die Abseiten, die Reste, die beim Guss überstehen und dann abgeschlagen werden. Und trotzdem haben Golds Assemblagen, wie man solche dreidimensionalen Collagen nennt, meist eine glatte, geschlossene Form. Porzellan wirkt unnahbar. »Manche arbeiten mit Blut«, sagt sie, »da wird einem gleich schlecht. Bei mir dauert es ein bisschen«. Das Material trägt mehr Bösartigkeit in sich, als man vor einer Sammeltasse vermutet. Wird in der Manufaktur aus Porzellan lebensnahes Obst gegossen, gießt Gold profane Leberwürste, aus denen vieles werden kann, ein »Heiliger Sebastian« zum Beispiel, eingespannt in einen Schraubstock, voller Holzspieße, tief in die weiche Form gebohrt. Religiöse Mythen setzt sie um, dass es einen beim Betrachten friert.
Im Küchenbuffet hat Gold Märchen stehen wie andre Leute Eierbecher, man könnte die Porzellansockel ihrer Märchen-Objekte auch als Eierbecher benutzen. Einstweilen sitzen kugelrunde Froschkönige darauf, auf gegenüberliegenden Punkten mit der goldenen Kugel besetzt, die in den Brunnen fiel, und dem Krönchen, das die Prinzessin trug. Dreht man das Objekt, kommen, je nach Ansicht, Dienst und Herrschaft zum Vorschein. Golds Objekte sind Spielzeuge zur Erforschung und Deutung der Welt.
Im Haushalt von Gold und Herbst kann jeder Gebrauchsgegenstand zum Kunststück werden. Diese Übergänge von Kunst und Leben beunruhigen, sie berühren die Identität, Stellen, an denen es weh tut. »Die Unruh kombt von dir«, sagt Angelus Silesius, der Wandersmann aus dem Schlesien des 17. Jahrhunderts, »du selber bist das Rad/ Das auß sich selbsten laufft/ und keine Ruhe hat.« Herbst hat im letzten Jahr begonnen, sich Silesius zu nennen. Eine Offerte, sagt er, für Landsmannschaften etwa sei das nicht. Es sei gar nichts, was er behaupte, es sage nur, wo er herkommt.
Gold sagt das auch, bloß anders: »Scherbenstärke« heißt ihr Feld aus weißen Porzellanscherben, das sie in Ausstellungen immer neu auslegt, auch »Erinnerungsfeld«. Nach jeder Ausstellung wäscht sie die Scherben, Erinnerung bleibt daran haften und Energie, Energie, die aufgewendet wurde, um das Gefäß zu erzeugen, Energie, an der es zerbrach, Energie zum Schneiden und Verletzen. Das ist die Stärke der Scherben. Die behauptet sich.
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