Subkultur oder Unternehmen

In Berlin entscheidet die Regierung im Bezirk Mitte, ob behutsame Stadtentwicklung nicht nur eine Worthülse ist

In Zeiten von Wohnungsnot und einer kulturell verödenden Innenstadt kündigt der Berliner Senat an, mit seinen landeseigenen Liegenschaften eine Vielfalt in der Stadt bewahren zu wollen. Diese rot-rote Absichtserklärung steht jetzt auf dem Prüfstand: Im Bezirk Mitte wird über eine Freifläche in der Invalidenstraße entschieden, die entweder die Kreativbranche für sich beansprucht oder die das Hausprojekt Schokoladen retten kann.
Der Schokoladen, einer der letzten subkulturellen Veranstaltungsorte in Berlin-Mitte, steht vor dem Aus.
Der Schokoladen, einer der letzten subkulturellen Veranstaltungsorte in Berlin-Mitte, steht vor dem Aus.

Klaus Wowereit spazierte im August vor fünf Jahren durch den Bezirk Mitte und nahm Tuchfühlung zu den Bürgern auf. Es war Wahlkampf, wie heute, und der Regierende Bürgermeister Berlins besuchte zusammen mit seinem SPD-Genossen Markus Pauzenberger das alternative Hausprojekt in der Brunnenstraße 183. Der Eigentümer des Hauses, Manfred Kronawitter, drängte auf eine Räumung. Wowereit versprach den Bewohnern, sich für den Erhalt ihrer Einrichtung einzusetzen. Doch die Verhandlungen zwischen dem Eigentümer und dem rot-roten Berliner Senat traten nie in eine heiße Phase.

Derzeit wendet sich erneut ein Hausprojekt an Wowereit. Der Schokoladen in der Ackerstraße 169 bittet in einem offenen Brief um Unterstützung. Auch dieses ehemals besetzte Haus, nur wenige hundert Meter von der Brunnenstraße entfernt, steht kurz vor dem Aus. Am 23. September könnte bereits das Ende der Gewerberäume im Erdgeschoss, in dem der stadtbekannte Konzertladen, der »Club der polnischen Versager« und das Tisch-Theater im Hof untergebracht sind, vor dem Berliner Landgericht besiegelt werden.

Der Eigentümer Markus Friedrich drängt nämlich auf eine Verwertung des Altbaus, den er vor 17 Jahren kaufte. Seitdem lässt er das bunte Treiben im Haus gewähren. Mittlerweile ist es das einzige Gebäude weit und breit ohne neuen Fassadenanstrich. Wenn Friedrich den Bau sanieren würde, um ihn anschließend zu vermieten oder einzelne Wohnungen zu verkaufen, ließe sich mit der Immobilie Profit machen. Doch mit unabhängigen Kulturveranstaltern ist sein Vorhaben nicht umzusetzen. Zwei Welten treffen in der ehemaligen Schokoladenfabrik aufeinander. Friedrich spricht von einem »Gordischen Knoten«.

Eine Lösung, die diesen Konflikt einvernehmlich beenden könnte, wäre ein Kompensationsgeschäft: Der Bezirk Mitte hat dem Eigentümer Friedrich vorgeschlagen, auf einem Ausweichgrundstück einen Neubau zu errichten und das Haus in der Ackerstraße 169 an den Schokoladen zu verkaufen. Hierfür stehe das Hausprojekt bereits im Kontakt mit der Stiftung Edith Maryon, erzählt Anja Gerlach, eine Sprecherin des Schokoladens. Als Baugrund soll Friedrich jenes Grundstück erhalten, das bei Kronawitter bereits im Gespräch war. Die Freifläche befindet sich in der Ackerstraße, Ecke Invalidenstraße – ein 7500 Quadratmeter großes, mit Bäumen und Sträuchern bewachsenes Grundstück.

Politische Entscheidung

Ephraim Gothe (SPD), Stadtbaurat in Mitte, will das Areal parzellieren, um darauf Leben und Arbeiten in einer heterogenen Bewohnerschaft zu ermöglichen. Im südlichen Bereich sieht Gothes Planung Gebäude mit einem hohen Gewerbeanteil vor, während den nördlichen Teil Baugruppen nutzen sollen. Hier könnte auch Friedrich bauen. Der Eigentümer des Schokoladens steht diesem Angebot aufgeschlossen gegenüber. Nach langer Zeit sieht er »Licht am Ende des Tunnels«.

Doch eine Entscheidung über die Nutzung des Grundstücks fällt nicht der Bezirk Mitte, sondern der Steuerungsausschuss des Liegenschaftsfonds. Ephraim Gothe sitzt zwar als Bezirksvertreter in diesem Gremium, doch die Schwergewichte in der Runde sind andere: die Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) für das Ressort Stadtentwicklung, Ulrich Nußbaum (parteilos) als Finanzsenator, Wirtschaftssenator Harald Wolf (LINKE) sowie der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit. Auf seiner nächsten Sitzung am 24. August will das Gremium erörtern, wie das Gelände an der Invalidenstraße verwertet werden kann. Gibt der Steuerungsausschuss dem Bezirk freie Hand, dann könnte Friedrich seine Räumungsklage schon im September zurückziehen und in Kaufverhandlungen mit den Bewohnern treten.

Ein solches Kompensationsgeschäft war im Falle der »Brunnen 183« mit seinem Eigentümer Kronawitter gescheitert, weil es mit der Designerin Jette Joop und dem Architekturbüro Graft noch andere Anwärter auf das Gelände an der Invalidenstraße gegeben habe, wie Bezirkspolitiker berichten. Zweifellos stärke die Ansiedlung von renommierten Unternehmen aus der Kreativbranche den Wirtschaftsstandort Berlin, betont Harald Wolf als Wirtschaftssenator. Gothe hat dies für das Gelände berücksichtigt. In seinem Vorschlag wäre sowohl Platz für Joop und Graft als auch für Friedrich.

Mit der heterogenen Nutzung dieser Freifläche, wie dies die Bezirksplanung vorsieht, könnte der Steuerungsausschuss eine neue Ausrichtung der Liegenschaftspolitik einleiten, genauso wie die rot-rote Koalition sich dies vorgenommen hat. Im Abgeordnetenhaus plädierte sie bereits dafür, landeseigene Grundstücke künftig »mit Augenmaß« entwickeln zu wollen. Zehn Jahre lang verhökerte das Land seine Immobilien nämlich bevorzugt zum Höchstgebot, was einer behutsamen Stadtentwicklung nicht sehr zuträglich ist.

Geräumt und doch verkauft

Die Brunnenstraße 183 steht dagegen noch immer da wie ein Mahnmal für eine misslungene Politik, die eine rücksichtslose Immobilienspekulation zulässt. Der fensterlose Altbau ist seit nunmehr fast zwei Jahren unbewohnt. Die Eingänge sind mit Metallplatten verrammelt. Kronawitter gab während des Streits um das Hausprojekt immer wieder an, in der Brunnenstraße 183 nach dem Sanieren selbst ein soziales Wohnen mit mehreren Generationen zu ermöglichen. Das Haus hat er jedoch längst weiterverkauft. In einem Exposé aus dem vergangenen Winter verlangte die Immobilienfirma Engel & Völkers dafür 1,3 Millionen. Im Grundbuch stehen jetzt Christoph und Catharina Birkel, Kinder des ehemaligen Nudelunternehmers Wolfram Birkel.

Die früheren Bewohner des Hauses verklagte Kronawitter auf eine Nutzungsentschädigung, die sie ihm abstottern müssen. »Es stehen noch fünf- bis sechstausend Euro aus«, erzählt eine Betroffene. Das Geld dafür sammeln sie auf Soli-Veranstaltungen in der linksalternativen Szene.

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