Es war wie im Rausch
Eine Gewalttat – die mediale Welt lässt uns zu Teilhabern des Grauens werden
Da steht ein blasser, schüchtern und etwas schlaksig wirkender Junge im glatt gebügelten Oberhemd, überwältigt einer Kamera-Armada, die ihn und seinen Freund die letzten Meter zum großen Gerichtssaal bedrängen. So viel Aufmerksamkeit für einen Gymnasiasten, der sich auf sein Abitur vorbereitet. Doch der junge Mann ist landesweit bekannt. Es ist der Berliner U-Bahn-Schläger, der einen Wehrlosen bis zur Besinnungslosigkeit gegen den Kopf trat, bevor er flüchtete.
Es war der 23. April, 3.35 Uhr, auf dem Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße. Torben P. und Kumpel Nico A. kamen, bis zum Stehkragen mit Alkohol abgefüllt, von einer Geburtstagsfeier. Aus feucht-fröhlicher Sufflaune wurde aus unerklärlichen Gründen Aggressivität. Sie suchten Streit mit nächtlichen Passanten, fanden keine Ansprechpartner für ihre Provokationen. Dann stießen sie auf den auf einer U-Bahn-Bank dahindösenden 29-jährigen Markus P. Der wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Bei 2:35 Minuten der Videoaufzeichnung eskalierte die Situation. Markus wollte den lästigen Drängler wegschieben, da streckte ihn Torben, völlig unvermittelt, mit einem wuchtigen Schlag nieder. Zwischen 2:39 und und 2:43 der Aufzeichnung trat der Täter vier Mal mit aller Kraft gegen den Kopf des reglos am Boden liegenden Opfers. Als ein 22-jähriger Tourist aus Bayern helfend eingriff, wurde auch er von den beiden Betrunkenen attackiert.
Torben P. hat sich damit nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft des versuchten Totschlags schuldig gemacht, da er den Tod des Opfers billigend in Kauf genommen hat. Kumpel Nico ist der unterlassenen Hilfeleistung und der Körperverletzung angeklagt, da er nicht eingeschritten ist und ebenfalls auf den Helfer in höchster Not mit eingeprügelt hat. Nach der Tat flüchten beide. Nachdem Torben am nächsten Tag, wieder halbwegs nüchtern und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, im Internet auf einem Polizeivideo sein Verbrechen begutachten kann, stellte er sich.
Die Medien überschlagen sich. Die Bilder der Tat werden immer wieder in unser Bewusstsein gehämmert, mehrmals am Tag, in einer Sendung drei, vier Mal. Im Internet kann man sich das Video runterladen. Kameras auf den Bahnhöfen machen es möglich, dass wir alle Zeugen werden, hautnah teilhaben am Grauen. Doch sind es wirklich die Bilder von der Tat? Tatsächlich werden nur Ausschnitte gezeigt, kurze Sequenzen eines über Minuten sich hinziehenden Geschehens. Insgesamt drei Bahnhofskameras haben alle Einzelheiten, das »Vorher« und das »Nachher« festgehalten. Jede Sekunde des Ablaufs ist von allen Seiten dokumentiert. Was zunächst nicht an die Öffentlichkeit weitergegeben wird: Zwei Reinigungskräfte und schauen dem Geschehen interessiert zu, ohne jedoch einzugreifen.
Als ein Richter kurz nach der Verhaftung Torben P. von der Untersuchungshaft verschont, geht ein Aufschrei durch das Land. Was für eine Justiz! Kapituliert sie vor der Welle der Gewalt im öffentlichen Raum? Der Richter wurde in Boulevardzeitungen öffentlich zur Schau gestellt. Zum Abschuss freigegeben. Seht her, das ist der Mann, der ein Monster frei herumlaufen lässt. Warum kommt der Gewaltverbrecher nicht sofort hinter Schloss und Riegel?. Ein Täter, der gesteht, muss in Ketten gelegt werden.
Doch Untersuchungshaft, das wissen alle, die den kollektiven Aufschrei zelebrieren, ganz genau, ist keine Strafhaft. Untersuchungshaft hat den einzigen Zweck, Verdunklungs- oder Fluchtgefahr zu verhindern, um ein rechtsstaatliches Verfahren zu sichern. Oder, um eine weitere Gewalttat zu verhindern. Das war in diesem Fall nicht zu erwarten. Erst nach einem rechtskräftigen Urteil muss der Täter für seine Taten büßen. So sagt es das Gesetz.
Torben P. ist kein stadtbekannter Schläger, kein Intensivtäter. Er ist der nette Junge von nebenan, mitten aus der Gesellschaft. Aus gutbürgerlichem Haus, wie er selbst sagt. Bis zur Tat besuchte er die Bettina-von-Arnim-Schule im Berliner Märkischen Viertel und bereitete sich, nachdem es mit den schulischen Leistungen eine Zeit lang bergab ging, auf sein Abitur vor. Mitschüler beschreiben ihn als unauffällig, doch mit einem Hang, sich sinnlos zu besaufen. Seine Eltern, beide seit Jahren schwer erkrankt und dem Berufsleben fern, hat er nur als Rentner erlebt. Er weiß nicht, wie es ist, wenn Mutter oder Vater zur Arbeit gehen. Möglicherweise hat dies zu tiefen inneren Verwerfungen geführt, die dann bei ihm in unkontrollierte Brutalität mündete.
Kameras können Taten aufzeichnen – nicht verhindern. Sie können bei der Fahndung helfen, die Täter zu überführen. Sie sind aber nicht geeignet, Gewaltkriminalität einzudämmen oder Personal auf den Bahnsteigen zu ersetzen. Sie spiegeln eine trügerische Sicherheit vor. Ein Täter, der tritt und schlägt, lässt sich von Beobachtung durch Kameras nicht abschrecken, eher das Gegenteil ist der Fall. Kameras beeinflussen in jedem Fall das subjektive Sicherheitsempfinden der Fahrgäste. Der tagtägliche Schwall von Horror befördert das Gefühl, ständig von Verbrechen umgeben zu sein. U- und S-Bahnen werden deshalb nicht gefährlicher, weil sie in den Medien präsent sind. Die meisten Gewalttaten geschehen in den eigenen vier Wänden. Und da ist keine Überwachungskamera dabei.
Auch der Ruf nach höheren Strafen für brutale Attacken werden Täter nicht von ihrem Tun abschrecken. Ob nun fünf Jahre und sechs Monate Gefängnis oder sechs Jahre und fünf Monate – bei der Tat denkt der Schläger gewöhnlich nicht daran, dass er dafür später zur Verantwortung gezogen werden wird.
Torben und Nico haben die schreckliche Tat trotz alkoholbedingter Erinnerungslücken vor Gericht gestanden. Sie bedauern das Geschehen und möchten es am liebsten wieder rückgängig machen. Eine Erklärung für den Exzess haben sie indes nicht. Es war wie im Rausch. Nun wird ihr Leben nicht mehr sein, was es bis zu den Morgenstunden des 23. April gewesen war.
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