Umbruch im Musterbezirk Jinshan
Staatlich regulierte Marktwirtschaft in der Volksrepublik China
Herr Shen, ein 40-jähriger Kader in einem der Shanghaier Musterbezirke, empfängt uns im weißen Hemd mit offenem Kragen und freundlichem Mienenspiel. Nichts in seinem Gesprächszimmer erinnert an die führende Rolle der KP Chinas. Die in der ganzen Stadt präsenten Plakate zum Gedenken an den 90. Jahrestag der Parteigründung sucht man im Rathaus von Jinshan vergeblich. Stattdessen hängen mit weichem Pinselstrich gemalte Landschaften an den Wänden, die Reisfelder und Fischteiche zeigen, wie sie offensichtlich vor dem industriellen Entwicklungsschub hier die Landschaft beherrscht haben.
Arbeiter mit und ohne »Hukou«
Der Bezirk Jinshan liegt am südwestlichen Rand von Shanghai, eine gute Autostunde von den Wolkenkratzern der Megapolis entfernt. Auf 600 Quadratkilometern, was etwa einem Zehntel der Gesamtfläche Shanghais entspricht, leben eine Million Menschen. 550 000 von ihnen, erklärt uns Vizegouverneur Shen, sind hier ansässige Bewohner, 250 000 bezeichnet er als längerfristige Migranten, während 200 000 erst vor kurzem aus dem Landesinneren hierher in die Boom-Region gekommen sind. Diese sogenannten Bauernarbeiter, auch als Wanderarbeiter bekannt, besitzen im Unterschied zur einheimischen Bevölkerung kein Heimatrecht in Jinshan. Ohne »Hukou«, wie diese spezielle Form der Aufenthaltsgenehmigung heißt, sind den Wanderarbeitern die ortsüblichen Sozialleistungen verwehrt, sie können ihre Familien nicht zu sich holen und ihre Kinder dürfen die staatlichen Schulen der Stadt nicht besuchen. Ihre derart erzwungene Flexibilität stellt eines der Geheimnisse der rasend schnellen chinesischen Modernisierung dar.
Bis vor kurzem war Jinshan eines der Herzstücke der chinesischen Textilindustrie. Auch heute arbeiten hier noch 120 000 Menschen im Textil- und Bekleidungssektor. In 700 Betrieben wird für den Weltmarkt gewebt, gestrickt und genäht.
Doch Shen Huadi hat bessere Pläne für seinen Bezirk. Laut 12. Fünfjahresplan sollen bis 2015 arbeitsintensive Billiglohnbranchen wie die Textilwirtschaft ins Landesinnere – dem niedrigen Lohn nach – abwandern, während man hier in der pazifischen Küstenregion Hightech-Industrien ansiedeln will. Als Angebote für entsprechende Investoren nennt Shen »die geografische Nähe von Flug- und Schiffshäfen sowie das Wirtschaftszentrum Shanghai mit seinen internationalen Firmensitzen, eine 58 Quadratkilometer große, mit Wasser-, Energie- und Telekomeinrichtungen sowie Bahn- und Autobahnanschlüssen infrastrukturell voll aufgeschlossene Industriezone sowie allerlei Vorteile für Besserverdienende«. Dazu gehören relativ billige Wohnmöglichkeiten und ein vom Bezirk zu vergebendes, sehr begehrtes Shanghaier »Hukou«. 50 solcher Heimatrechte kann Shen pro Jahr verteilen.
Als erste Erfolge dieser industriepolitischen Aufrüstung verweist der Vizegouverneur auf bevorstehende Investitionen eines US-amerikanischen pharmazeutischen Betriebes und einer italienischen Textilmaschinenfirma, die bereits in Jinshan produziert.
Jetzt heißt es: »Der Mensch zuerst«
Mit 5000 am Ort Beschäftigten gehört die »Jiale Corporation« zu den größeren Textilbetrieben im Bezirk. Neue Standbeine im Westen Chinas und ein geplantes Werk in Indonesien sollen die steigenden Lohn- und Sozialkosten im pazifischen Osten des Landes kompensieren.
Mit einem Film in englischer Sprache vermittelt uns die Betriebsleitung stolz das Profil, wie sie es Einkäufern und Kunden aus Übersee präsentiert. Zwischen 25 und 30 Millionen Kleidungsstücke jährlich werden hier produziert. Die Produktpalette reicht von T-Shirts, Hosen, Anzügen und Kleidern bis zu elastischen Strickgeweben für Sportbekleidungen. Die Liste der Abnehmer liest sich wie das »Who ist who« der Weltmarken: Quiksilver, Levis, Reebok, The Northface, Marie Claire und Tommy Hilfiger lassen in Jinshan fertigen. Garn wird von einem österreichisch-chinesischen Zelluloseunternehmen geliefert, das im nahen Nanjing ein großes Werk betreibt.
In riesigen Sälen rattern Tausende Nähmaschinen, hinter denen meist junge Frauen ihr Tagwerk vollbringen. Dass es keine reine Frauenarbeit ist, überrascht den Besucher. Rund zehn Prozent der nähenden Belegschaft sind Männer. Eine Hälfte der Arbeiterinnen und Arbeiter kommt aus der näheren Umgebung, die andere aus fernen Provinzen im Norden und Westen Chinas. Diese Wanderarbeiter wohnen in Heimen auf dem Fabrikgelände, zu viert oder acht in einem Zimmer. Quartier und Kantinenkost sind frei. So können sie – theoretisch – ihren gesamten Monatslohn von 3000 Renminbi, umgerechnet 330 Euro, für ihre Familien im Landesinneren aufsparen.
Vor allem die steigenden Kosten für Sozialversicherungsabgaben bereiten dem Generalmanager von »Jiale« Kopfzerbrechen. Noch vor wenigen Jahren fielen sie als Kostenfaktor für Unternehmen nicht ins Gewicht. Mit dem seit 2011 in Kraft befindlichen 12. Fünfjahresplan sowie dem neuen Parteislogan »Der Mensch zuerst« erhöht sich der Druck auf Betriebe, Sozialabgaben zu leisten. Da die von Provinz zu Provinz unterschiedlich hoch sind, dienen sie dem Staat auch als Mittel regionalpolitischer Steuerung. Das Management von »Jiale« reagiert entsprechend darauf und bereitet einen zumindest teilweisen Standortwechsel nach Anhui ins Landesinnere vor. Dort betragen die monatlichen Sozialabgaben pro Arbeiter 150 Renminbi, während sie im Shanghaier Bezirk Jinshan auf 800 geklettert sind.
Herr Sheng Y. muss kämpfen
Ein anderes, wesentlich kleineres Bekleidungsunternehmen, das nur wenige Autominuten von »Jiale« entfernt liegt, kämpft angesichts steigender Löhne und insbesondere Sozialabgaben ums Überleben. Wir treffen den Besitzer, Herrn Sheng Y., im überdimensionierten Konferenzraum. Der heute 57-Jährige war gelernter Schneider, als er sich im Jahr 1992 selbstständig machte. Bankkredite waren damals leicht und günstig zu haben, japanische Einkäufer gaben das Sortiment vor, das in der Fabrik gefertigt wurde: Zuschneiden, Nähen, Bügeln, Verpacken.
Innerhalb von zehn Jahren hatte Herr Sheng Y. aus einer kleinen Schneiderei einen Betrieb mit 1000 Beschäftigten aus dem Boden gestampft. »Ab 2001 ging es aber langsam wieder bergab«, meint der hagere Fabrikant, der so gar nicht den Vorstellungen von einem Unternehmer entspricht, im Rückblick. Er macht einen niedergeschlagenen Eindruck, die steigenden Kosten lasten schwer auf ihm. So überraschend sich ihm Anfang der 90er Jahre die Möglichkeit geboten hatte, ohne großes eigenes Kapital ein Unternehmen aufzubauen, so sieht er sich heute staatlichen Vorgaben gegenüber, die mittlere und kleinere Betriebe zum Aufgeben zwingen. Mit seinen noch 300 Näherinnen kann er an eine Übersiedlung seiner Produktion an billigere Standorte nicht denken. Mehrere kleinere Nähereien in Jinshan haben ihre Tore bereits geschlossen.
Die Fabrikhallen von Herrn Sheng könnten schon bald von einem anderen Investor genutzt werden. Nur die Großen überleben, und nur jene, die den politischen Vorgaben der regional Verantwortlichen folgen können. Für Herrn Sheng Y. und seinen Bekleidungsbetrieb geht ein 20-jähriger Zyklus von rasantem Aufstieg und schleichendem Abstieg zu Ende.
Japanische, EU-europäische und US-amerikanische Modeketten haben längst damit begonnen, ihre Einkäufer ins Landesinnere Chinas oder nach Vietnam und Indonesien zu schicken. Große einheimische Textilhersteller folgen einerseits diesem Trend und versuchen andererseits, eigene Marken insbesondere für den chinesischen Markt zu kreieren. Dieses nationale Branding wird angesichts des immer sprunghafter werdenden Weltmarkts auch von politischer Seite unterstützt. Binnenmarktentwicklung soll China helfen, seine Exportabhängigkeit abzubauen, die zu einem extremen Überschuss an Devisen geführt hat. Der Musterbezirk Jinshan am Rande Shanghais befindet sich mitten in diesem industriepolitischen Umbruch.
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