Musik, die etwas sagen will

Stücke von Rihm, Liszt, Berlioz, Widmann und Zender beim Musikfest Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

W inrich Hopp, künstlerischer Leiter des Musikfests Berlin, lenkt den Blick auf das Faustische und Prometheische. Diese beiden mythische Stränge würden das Programm »teils offen, teils subkutan« durchziehen. Schön gemeint. Und derlei Paarung dürfte sich vermutlich auch in der Gegenüberstellung von Mahler, Liszt, Busoni, Pfitzner einerseits und Luigi Nono (»Prometeo«) andererseits verwirklichen. Allein – die ersten Dinge liefen anders. Keine großen, die traditionellen Formen sprengenden Weltentwürfe, getragen und fasziniert von der menschlichen Stimme und fundamentalistisch untersetzt durch die faustische Allgewalt Wagners, sondern zu erleben war in der Mehrzahl gute, gebrauchsfähige, auch vergnügliche Konzertmusik.

Zwei Festival-Akzente gab das Eröffnungskonzert zu erkennen. Wolfgang Rihm, er ist noch keine sechzig, doch feiert man den runden Geburtstag (13. März 2012) schon. Bündel von Stücken, Fragmente, Studien, Verheißungen, Verwandlungen, Zyklen flossen und fließen aus seiner Feder. Das 13. Streichquartett jagt das 14.! Linie, Fluss, Fließen, Strömen – das sind zentrale Kompositionskategorien bei ihm, die haben freilich ihre Tücken. Sieben Aufführungen darf der Karlsruher Komponist in diesen Tagen entgegensehen.

Die Voreröffnung in der Gethsemanekirche brachte sein »Et Lux« für Vokalensemble und Streichquartett. Instrumentierte Textfragmente der römischen Requiemliturgie. Die »Verwandlungen 3« für Orchester eröffneten offiziell den mythischen Reigen des Musikfestes. Ein Stück, das – ganz unmythisch – dieses ewige Fließen hat, wo die Klänge auf- und abschwellen, sich hochrecken und wieder zurück, das den Musikern auf Leib und Weste geschneidert ist, das gut in den Fingern sitzt, das griffig und flüssig ist, eben ganz ein Werk nach Verlangen des Betriebs.

Dann der bedauernswerte tote Liszt, der gerade seinen zweiten Tod erlebt, den Tod durch die Feier. Mit seinem A-Dur-Klavierkonzert Nr. 2 hebt er kühn sein Haupt und fragt: Wo bin ich? Das Werk ist eins der »hochromantischen« Meisterstücke, die so romantisch gar nicht klingen, vielmehr klar strukturiert, bündig geformt, dramatisch sind. Brillant die Wiedergabe mit Pianist Jean-Yves Thibaudet und dem Philadelphia Orchestra unter Charles Dutoit. Ein farbiger Reigen spulte ab. Tolldreiste Übergänge tackern die Form, Rhythmik zerbröselt dort, wo sie zum Hindernis wird, extravagant die harmonischen Rückungen und Brüche. Die Melodik scheint eher bitter als süß. »Marziale« Marschattacken in den Ecksätzen lenken das Ohr in abgründige dramatische Gefilde.

Gewaltig nicht minder die kühnen Blechbläserattacken in Berlioz’ dem dampfenden Industriezeitalter nachhorchende »Symphonie fantastique«, so topsichere wie in den heftigen Teilen gallige Nummer im Betrieb. Ihre glänzende Umsetzung ließ den Beifall nur so branden.

Kontrastreich die Matinee in der Philharmonie am Sonntag mit Kammermusik von Jörg Widmann, Komponist und zugleich vorzüglicher Klarinettist, und Wolfgang Rihm. Rihm gehörten die Eckwerke. Metrumlos, freizügig ausdeutbar die meist gedehnten, ausdrucksvollen »Vier Male« für A-Klarinette solo. Für Solist Widmann Gelegenheit, ein Ganzteil der Reichtümer des tieferen Instruments abzurufen und Rihms Intention des »freien Flusses der Zeit« zu verwirklichen. Dann Rihms meist dünnblütige »4 Studien zu einem Klarinettenquintett«. Nichts gemahnt darin an die Klarheit, die kontrapunktischen Finessen, die Spielfreude der gleich besetzten Quintette von Mozart, Brahms und Reger. Der Solist billigt die Welten, in die ihn der Komponist stellt, statt ihnen zu erwidern. Immerhin lässt der rhythmische »Molto vivace«-Satz aufhorchen, während der Schlusssatz »calmo, sostenuto« gefühlig dahinduselt.

Das heiter-grimmige »Jagdquartett« von Widmann, 2003 komponiert, entbehrt nicht eines tieferen Sinns. Es entzündet sich an klassischer Jagdmotivik, an Mozarts »Hunt-Quartet« KV 458, an Schumann Schlussstück aus »Papillons«, vielleicht an Beethovens Klaviersonate op. 31 »Die Jagd«, Scherzo-Teil. Das Stück, raffiniert gebaut, bewegt punktuell gestisches Material. Bevor der erste Ton kommt, peitschen die Streicher ihre Bögen durch die Luft. Ab geht die Reiterei, Attaca, 6/8-Takt. Über Stock und Stein, durch dick und dünn. Kratzen, col legno battuto, tremolo, Sägen hinterm Steg, Rufen, Schreien. Die Aktion erschöpft sich. Plötzlich kehren sich die Verhältnisse um. Die streichenden Jäger mutieren zu Gejagten. Noch wilder nun die Szenerie. Wer jagt wen? Am Schluss zeigen die Bogenspitzen colla punta dell’arco auf den geplätteten Cellisten. Erlegt? Ein Bravo dem Minguet Quartett.

Harte Nuss im Großen Saal der Philharmonie Hans Zenders »Logos-Fragmente« für 32 Singstimmen (SWR Vokalensemble Stuttgart) und vier Orchestergruppen (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg). 90 Minuten lang hochkomplexe Musik, zyklisch angeordnet, Reihenfolge ad libitum. Jedes Fragment kann extra aufgeführt werden. Die Hörer erlebten eine Gesamtaufführung, drei Fragmente kamen als Uraufführung. Die Texte stammen aus der buntfarbenen Szenerie frühchristlicher Bewegungen, wie der Psalm des Valentinos, Worte des Johannes und Thomas, ein Tanzlied aus den Acta Johannes und dergleichen. Zwei Flügel sind vorn postiert. Sie geben Einwürfe, kolorieren, gelegentlich brechen sie hervor. Die vier Orchestergruppen bilden einen großen Block. Je zwei Bässe oder Posaunen oder Fagotte usw. an vier Punkten im Raum, die Streicher ebenso verteilt. Die Vokalisten sitzen oder stehen, wenn sie solistisch hervortreten, im Halbkreis. Eine imposante Aufführungskulisse.

Zur Sprache kam wirklich neue Musik, mannigfaltig angeboten, hochkonzentriert ausgeführt, ein Riesengebilde, gespeist aus den Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts. Redende Musik, Musik, die etwas sagen will, die Sprache (Logos) aufnimmt, Sprache, die an sich einfach, verständlich ist, die ihre Geschichten englisch, lateinisch, deutsch erzählt – und doch eine Musik, die unsäglich kompliziert mit ihrem Sprachmaterial umgeht, die an Redewendungen vorbeigeht, die, wenn von Weinstock die Rede ist, im Muster verharrt, statt es aufzubrechen und trunken zu sein, Musik, die es manchen Hörern so schwer machte, dass sie den Saal verließen.

Gewiss: Der 75-jährige verdienstvolle Hans Zender will mit den »Logos-Fragmenten« opponieren. Aber, alte Weisheit, man opponiert nicht straflos dem Zeitgeist.

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