Richter als Wildhüter
Karlsruhe lässt Finanzspekulanten, Regierung und Parlament freie Hand
Man mag das Finanzkapital nach schwarz-rot-grünem Konsenssprech für ein »scheues Reh« ausgeben oder auch wie Ex-SPD-Chef Franz Müntefering einst bei chronischem Mitglieder- und Wählerschwund mal als »Heuschrecken« titulieren. Der gestrige Spruch der acht Bundesverfassungsrichter vom Zweiten Senat hat es nicht erkennbar erschreckt. Und er wird es schon gar nicht an seinen hochprofitablen Spekulationen mit dem Euro und gegen die Bürger aller Mitgliedsländer der Währungsunion behindern. Das Gericht agierte ergo nicht als Dompteur, sondern eher als »Wildhüter« – für den Raubtierkapitalismus.
Nur in einem Punkt der Verfassungsbeschwerden – dem Schutz des Wahlrechts – erklärten sieben der acht Richter die Verfassungsbeschwerden wenigstens für zulässig, während Bundesregierung und Bundestagsmehrheit selbst das bestritten. Einig sind sich Richter und Regierende, dass Verfassungsbeschwerden wegen der durch die Euroschuldenkrise verschärften Kaufkraftverluste der Bürger nicht statthaft sind. Selbst wenn sich aus dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsprinzip eine »Pflicht des Staates zum Schutz des Geldwertes ergeben sollte, sei damit kein Grundrecht des Einzelnen verbunden«, wird etwa im Urteil distanzlos die Regierungsposition zitiert.
Im Kontext der Eurorettungspakete in Karlsruhe zu klagen, sprach das Gericht den Bürgern nur dann zu, wenn eine »Entwertung des Wahlrechts« einträte. Die könnte passieren, »wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können«. Garantien für Verbindlichkeiten Deutschlands zur Erhaltung der Liquidität von Euro-Staaten könnten das bewirken, räumen die Richter ein. Doch zugleich billigen sie, wie Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der mündlichen Urteilsverkündung betonte, dem Gesetzgeber einen »zu respektierenden weiten Einschätzungsspielraum« zu, was die Risiken übernommener Kreditgarantien und der finanziellen Leistungsfähigkeit Deutschlands betrifft. Die unter großem, nicht nur zeitlichen Druck durchs Parlament gepeitschten Gesetze zur Finanzhilfe für Griechenland und zum »Eurorettungsschirm« verletzten das Budgetrecht des Parlaments nicht, meint das Gericht.
Nur eine klitzekleine Kritik erlaubte sich der Senat: Paragraf 1 Abs. 4 des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes verpflichtet die Bundesregierung dazu, sich vor Übernahme von Gewährleistungen zu bemühen, »Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages herzustellen«, heißt es ganz am Ende des Urteils. Sonst »wäre der Einfluss des Bundestages auf die Gewährleistungsentscheidungen – über die allgemeine politische Kontrolle der Bundesregierung hinaus« – nicht sichergestellt. Also verfassungswidrig. Dieses Verdikt umging der Senat mit folgendem Trick: Die Bestimmung sei so auszulegen, »dass die Bundesregierung … verpflichtet ist, die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen«. Außer wenn es unabweisbar ist, die Gewährleistung auch vor Herstellung des Einvernehmens zu übernehmen. Noch eine Blankovollmacht für die Regierung.
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