»Das hier ist Lukaschenkos Werk«
Eine Erkundungstour in der belarussischen Provinz
Widomlja ist ein Dorf mit 500 Einwohnern im Kreis Kamenez des Gebiets Brest, ganz im Westen von Belarus, unweit des bekannten Urwaldgebietes von Belawesh. Vor zwei Jahren hatten dort acht Familien neu erbaute Einfamilienhäuser bezogen – dieser Tage wird das 128. Häuschen mit städtischem Komfort übergeben werden. Michail Strapko, Direktor des »Agrogorodok« (Agrostädtchen) Widomlja, erläutert: »Die Häuser sind Eigentum des Kolchos.« (Der »Kolchos« entfährt ihm offenbar aus alter Gewohnheit. »Agrogorodok« heißt der Nachfolger, die Mitglieder sind heute Aktionäre.) »Bleibt der Bewohner zehn Jahre bei uns, gehört das Haus ihm. Wenn er nicht mehr bei uns arbeitet, kann er das Haus zum Zeitwert kaufen oder als Mieter drin wohnen.«
Aktionäre denken nicht an Feierabend
Einfamilienhäuser werden aber auch privat gebaut. Mechanisator Dmitri hält eine Baugenehmigung in den Händen. Wie lange dauert es vom Antrag bis zum fertigen Haus? »Zwei Wochen bis zur Genehmigung, Einzug ein halbes oder ein Jahr später.« Haben Sie einen Kredit aufgenommen? »Ja, 40 000 Dollar, die müssten in 40 Jahren zurückgezahlt sein, aber nach dem dritten Kind, es wird bald da sein, brauche ich vom Kredit nichts zurückzuzahlen. Dann gehört das Haus mir – meiner Familie.«
Befragt nach der Aufforderung des Präsidenten, mehr Privatunternehmungen zu gründen, antwortet Direktor Strapko: »Ja, das hat er gesagt. Aber nur 2 Prozent der Ackerfläche von Widomlja werden von Privatbauern bearbeitet. Einer hat sich mit 300 Hektar als Einzelbauer eingerichtet. Wir unterstützen ihn. Doch das Interesse für Einzelbauernwirtschaften ist nicht groß. Unsere Leute wollen lieber im Großbetrieb arbeiten, mit gesichertem Einkommen. Schauen Sie, jetzt ist es abends halb acht! Auf den Feldern arbeiten die Traktoren. Als Aktionäre denken sie in der Saison nicht an Feierabend. Sie wissen, es ist ihr Geld, was auf den Feldern heranwächst! Mein Ziel ist, unseren Leuten mehr Geld zukommen zu lassen. Bei steigenden Düngemittel- und Treibstoffpreisen, dringend notwendigen Technikkäufen ist das ein Problem.« Ansonsten beschäftige er sich nicht mit hoher Politik. »Wir als Direktoren der Agrogorodoks sind dem Fachministerium unterstellt. Da zählt nur Leistung.«
Und wie sieht es in Orten aus, in denen es keinen Strapko gibt? Da lacht er: In über 75 Prozent des Territoriums habe sich die Lage grundlegend verbessert, seit 2005 Lukaschenkos Programm zur Wiedergeburt des belarussischen Dorfes in Gestalt der Agrogorodoks verabschiedet wurde. »Ich garantiere: Es gibt noch bessere, reichere Agrogorodoks als Widomlja.«
Tatsächlich sind die neuen Dörfer schon mit flüchtigem Blick links und rechts der Autobahn nach Minsk zu sehen, daneben das alte Dorf der Holzblockchatas.
Neu sind auch die privaten Supermärkte und Marktketten, die meisten mit staatlicher Beteiligung. Das Angebot unterscheidet sich in nichts von dem in Deutschland. Aber die Verkäuferinnen klagen: »Die Leute haben zu wenig Geld. Nach der Abwertung nun noch spürbarer.« Im Mai war der Belarussische Rubel offiziell um 50 Prozent abgewertet worden.
»Aber er ist zu lange im Amt«
Brest ist eine der komfortabelsten Städte des Landes. Das »Olympische Wassersportzentrum« hat zwar noch keine Olympischen Spiele, wohl aber Welt- und Europameisterschaften erlebt. Über eine halbe Milliarde Dollar hat es gekostet. Ein Trainer fährt mit Fahrrad und Megafon die Regattastrecke entlang. »Das hier ist Lukaschenkos Werk. Aber er ist zu lange im Amt, fast 16 Jahre. Das System muss bleiben, unbedingt, aber er muss weg, jetzt brauchen wir frischen Wind!« Was meint er mit frischem Wind? »Mehr Demokratie.« Und was heißt das? »Wir müssen als Volk entscheiden können, ob wir nach links oder nach rechts gehen. Bis jetzt sagt er ›geradeaus‹, und wir müssen alle geradeaus gehen!« Die Mehrheit sei zwar immer noch für Lukaschenko, »aber die Zustimmung der Jugend nimmt ab.«
Andrej, ein junger Mann, arbeitete als Hauptenergetiker in der Schweinemastanlage der OAO (Offenen Aktiengesellschaft) Belaweshski – und schreibt mir, erst zögernd, dann doch entschieden, Adresse und Telefonnummer auf. Von ihm höre ich, was andere halblaut sagen: Lukaschenko eigne sich Reichtümer an! Im russischen Fernsehen sei vor den letzten Wahlen ein mehrteiliger Film zu sehen gewesen. »Da wurde gezeigt, was er sich angeeignet hat. Er ist nicht ehrlich.« Andere kommentieren besagten russischen Film mit den Worten: »Jetzt wollen sie ihn wohl auch von dieser Seite weghaben.«
Und was soll sich ändern – nach Lukaschenko? Andrej wünscht sich: »Als erstes freie Wahlen.« Zwar hätte er bei den Wahlen im vergangenen Dezember die Möglichkeit gehabt, gegen Lukaschenko zu stimmen, »aber der hat die Meinungsmache in der Hand. Das Volk wird von ihm beeinflusst.« Ich frage den jungen Mann, woran es ihm fehle, was er missen müsse. Er: »Eigentlich nichts, es reicht. Aber ich muss jeden Tag nach Polen fahren und ein paar Liter Benzin verkaufen. Sonst könnte ich mir kein Auto leisten.«
Zwischen Teichen und Biberburgen
Im Süden des Brester Gebiets, nahe der Grenze zur Ukraine, fließt der Pripjat, der ein großes Sumpfgebiet bildet, eine der unwegsamsten Gegenden des Landes. Und dennoch: In jedem Dörflein Auf- und Umbau, jede Bushaltestelle neu. Inmitten von Wasserläufen, Teichen und See, zwischen von Bibern gefällten Bäumen entdecke ich jedoch eine Unterkunft, so ärmlich, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Aber die engen Räume sind bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. Hier wohnt die Familie Schwed. Nein, aus Deutschland kämen sie nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, auch nicht von der Wolga. Sie seien nach der Perestroika, weil ohne Arbeit, ohne Lohn, ohne Brot, aus der Gegend von Gomel hierher in den Westen von Belarus geflohen. Er, ehemaliger Matrose der Schwarzmeerflotte, bewache die Teiche. Tochter, Sohn und Mutter schimpfen: »Das ist keine Arbeit, aber ihm reicht es.« Die Mutter geht 5 Kilometer durch den Wald und arbeitet als Putzfrau in einer Schule. Der junge Schwed, 16 Jahre alt, erklärt auf Deutsch, warum gerade Männer viel Wodka trinken. »Weil sie dann nichts arbeiten brauchen, überlassen dann alles den Frauen.« In einem Brief, die Wörter hat er sich aus dem Wörterbuch gesucht, wird er später schreiben: »Hier alles Volk für Lukaschenko. Er guter Organisator. Wenn er weg, dann Chaos wie in Ukraine. Wir jetzt umziehen in Wohnblock der Geflügelfarm. Vater will nicht. Wir wollen.«
Seit Jahren schon bin ich mit einem Germanisten aus Minsk befreundet. Sonst ein zuversichtlicher, optimistischer Mensch, erklärt er mir diesmal: Mit der Perestroika seien Millionen ins Nichts geraten, vergleichbar mit den Nachkriegsjahren. Lukaschenko sei der Mann gewesen, der wieder Brot für alle garantierte. Er sei der Erlöser gewesen. Das aber sei für die junge und jüngere Generation nicht mehr so wichtig. »Sie wollen mehr, weiter …« Sie sähen für sich im heutigen Belarus keine Möglichkeit, ihr Potenzial zu entwickeln, sie wollten Veränderungen.
»Starker Staat braucht selbstbewusste Bürger«
»Der Staat aber setzt vor allem auf Macht, Gehorsam und Angst«, bedauert mein Freund, der Germanist. Er könne diese Taktik zwar verstehen, aber keinesfalls teilen, »weil aus meiner Sicht ein starker Staat sich nur auf gebildete, mutige, selbstbewusste und national bewusste Bürger stützen kann. Doch diejenigen werden gerade nicht besonders gefördert, eher umgekehrt.« Und dann: »Ich glaube, unsere Regierung ist zu keinem normalen Dialog mit ihren Opponenten bereit. Es ist natürlich sehr bedauerlich, besonders für mich...«
Im Brester Neubauviertel erlebe ich die Familie Tutuschnika beim Abschiedsfest. Der Schwiegersohn wird nach Venezuela verabschiedet. Er ist Bauleiter auf einer Großbaustelle der Ölindustrie. »Von Lukaschenko mit Chavez vereinbart! Lukaschenko sorgt für Arbeit. Gute Arbeit, gutes Geld!« Die allgemeine Stimmung in der Familie: »Uns geht es nicht schlecht. Aber wie immer: Überall dort geht es den Menschen besser, wo wir Belarussen nicht sind.« Wir einigen uns und trinken darauf, dass es den Menschen überall gut ergehen soll – und uns nicht am schlechtesten!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.