Das Volk regiert aber nicht

Wahlen und Wille:

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin stand zur Wahl. Nach der Zeit der stimmzettelfaltenden Hände kommt nun wieder die Zeit der abwinkenden Hände: Nichts ändert sich, es werden am Ende, also am Anfang der neuen Legislaturperiode, wieder nur aussaugende Käfte an der Macht sein. Die motorisch ablaufende Dialektik: Zur Demokratieausübung gehört Demokratiebeschimpfung. Weil sie nicht wirklich Volksherrschaft sei, wie am vergangenen Samstag von RBB-Befragten auf der Straße recht unermüdlich betont wurde.

Stimmt. Volksherrschaft – dies Wort ist Mythos und Propaganda, eingesickert in ein Gemüt, das sich die politische Welt idealer vorstellt, als sie je sein kann. Demokratie, zumal die repräsentative, bleibt gebunden an das, was man (uncharmant!) Herrschaftscharakter nennt. Er ergibt sich aus dem ordnungsstiftenden wie -wahrenden Umstand, dass der zur Macht kommende Wille der Mehrheit keineswegs bedeutet, nun könnten alle mitreden. Im Gegenteil: In Dingen, die alle angehen, geben nur Wenige den Ton an, und die werden sogar nur von einem gewissen Bevölkerungsteil gewählt.

Das ist der ewige Konfliktstoff, ist der mangelhafte Ausdruck der Mehrheitskraft über Minderheitenwünsche. Ein Umstand, der ständig Erwartungen enttäuscht und die Demokratie ins Zwielicht setzt. Ihr Vorzug nun besteht nicht in der Abschaffung dieses Konflikts, sondern darin, dass sie ihn – im Gegensatz zu jeder Diktatur – strengstens berücksichtigt: indem politische Herrschaft eine Praxis auf Zeit bleibt; Wählbarkeit ist an Abwählbarkeit gekoppelt. Programmatischer Wahltirrtum kostet Jahre, aber nicht Lebensgroßzeit.

Hilft diese Tatsache nicht auch gegen eine weitere, sich ebenfalls immer wieder regenerierende Enttäuschung – jene über den persönlichen Charakter politischen Personals? Stets sind Vorstellungen von wirklicher Demokratie mit der Hoffnung verknüpft, Regierende seien lauter lautere Leute. Schnell wird der Unmut über das generell Unsaubere in der Politik von den individuellen Charakteren der jeweils Agierenden auf den Charakter des (kapitalistischen) Systems umgeleitet. Just davon nährt sich wohl auch die probate linke Denkart, sich aus Gründen ethischer Sauberkeit von Regierungsbeteiligungen fern zu halten. Als sei jede Urkunde fürs mächtige Amt mit schmutzigem Lorbeer umlegt.

Aber auch hier gilt: Demokratie schafft weder Abhängigkeitsverhältnisse ab, noch tilgt sie des Menschen Hang zu Konformität und egoistischer Gier. Marktwirtschaft, also Konkurrenz, belebt wahrlich das Geschäft, aber aus dem Geschäft des Politischen wird leider immer auch wieder eine Politik des Geschäfts. Das demokratische Prinzip ist in dieser bitteren Praxis der bislang erfolgreichste Versuch, diese Realität in Maßen zu kompensieren, aufzudecken, Ertappte in Rechenschaftspflichten zu zwingen. Demokratie erledigt nicht die Unmoral, aber sie setzt Rechtsgrundlagen, schafft Möglichkeit und Notwendigkeit öffentlicher Diskussion. Unmöglich etwa, sich die Entwicklung der hiesigen linkssozialistischen Partei in der DDR vorzustellen und allein davon ausgehend nicht auf den Gedanken zu kommen, wir lebten jetzt in einer besseren von allen schlechten Welten. In einer Demokratie. Die – vielleicht zusätzliches Glück in schwierigen, verwirrenden Zeiten – keine direkte Volksherrschaft ist.

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