Abwicklung einer »Kaderschmiede«
Vor 20 Jahren wurde die HfÖ aufgelöst. Großes wissenschaftliches Potenzial ging verloren
Am 1. Oktober vor 20 Jahren wurde die Hochschule für Ökonomie (HfÖ), begleitet von Protesten der Mitarbeiter und Studenten, aufgelöst. Sie war die größte wirtschaftswissenschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtung der DDR. Mehr als 1000 Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter, Arbeiter und Angestellte haben hier gelehrt, geforscht und gearbeitet. Einige Zehntausend haben hier studiert oder die umfangreichen Weiterbildungsangebote genutzt. Mehr als 2000 wurden promoviert oder habilitiert. Tausenden von Fachleuten der Wirtschaftspraxis wurde die Möglichkeit geboten, über ein Fernstudium den Hochschulabschluss zu erlangen.
Eine große Anzahl von Büchern und Lehrbüchern, Monografien und anderen wissenschaftlichen Arbeiten, die fast das gesamte Spektrum der Wirtschaftswissenschaften, der Wirtschaftsgeschichte sowie Teile der Rechtswissenschaften und der Wirtschaftsinformatik umfassten, wurden – auch international – publiziert. Die HfÖ verfügte über ein beträchtliches Forschungspotenzial und über gute Voraussetzungen für die individuelle Betreuung der Studenten und deren Einbeziehung in die Forschung. Die Einheit von Lehre und Forschung war ein grundlegendes Prinzip ihrer Arbeit. Ein Hemmnis war jedoch der hohe Geheimhaltungsgrad vieler grundlegender Daten der Volkswirtschaft, vor allem aber der Monopolanspruch der Parteiorgane auf die Deutungshoheit in Fragen der sozialökonomischen Theorie und ihr restriktiver Einfluss auf die ökonomische Forschung in der DDR.
Wissenschaftler der HfÖ waren langjährige Mitarbeiter internationaler Institute, so am International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg bei Wien, am Internationalen Institut für Ökonomische Probleme des Sozialistischen Weltsystems in Moskau, am Institute for National Planning in Kairo. Es gab Verträge und Arbeitsvereinbarungen über Gastvorlesungen, die gemeinsame Arbeit an Forschungsprojekten oder den Studentenaustausch mit mehr als 20 bedeutenden Universitäten, Hochschulen und Instituten der ehemals sozialistischen Länder, aber auch mit der Reichsuniversität Antwerpen, der Wirtschaftsuniversität Wien, der Universität Joennsuu (Finnland), dem Ghokale Institut für Politik und Wirtschaft in Puna (Indien) oder mit japanischen Universitäten. Mehr als 1000 ausländische Studenten, vorwiegend aus ehemals sozialistischen Ländern oder Ländern der Dritten Welt, wurden hier zum Diplom oder zur Promotion geführt. Schließlich wurden über Jahrzehnte Trainingskurse zur Industrieplanung oder internationale Konferenzen im Auftrag von UN-Organisationen durchgeführt.
Enge Praxisbeziehungen waren Voraussetzung für eine qualifizierte Lehre und Forschung. Auch Fernstudium und Weiterbildung waren Lehrveranstaltungen und zugleich Formen des Dialogs mit der Praxis. Schließlich ermöglichten die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ein Studium frei von materiellen Sorgen.
Die HfÖ war ein Kind der DDR und mit deren Anstrengungen zur Schaffung einer zum Kapitalismus alternativen Gesellschaft in vielfältiger Weise verbunden. Schwierigkeiten in den Anfangsjahren waren nichts Ungewöhnliches. Wir glaubten, sie seien unvermeidbar auf dem Weg in gesellschaftliches Neuland. Auch an der HfÖ verlief die Ausbildung anfangs nicht problemlos. Die meisten Assistenten waren mit den Studenten gleichaltrig oder jünger. Sie hatten kaum Lehrerfahrung. Es fehlten Lehr- und Studienmaterialien. Die Unterstützung durch erfahrene Leitungskräfte der Wirtschaftspraxis war in dieser Zeit von besonderer Bedeutung. Gleichermaßen die Nutzung von Ergebnissen der Sowjetwissenschaften. Allerdings erfolgte die Bezugnahme auf diese bis Mitte der 1980er Jahre recht einseitig, danach kaum noch.
Die Entwicklung der Hochschule verlief auch nicht ohne Konflikte. Sie galt zwar als »Kaderschmiede«, zugleich war sie aber Gegenstand der Kritik, z. B. durch das Sekretariat des ZK der SED im April 1953 wegen »Versöhnlertum in ideologischen Fragen« und »Missachtung der Parteibeschlüsse zum Studium der Sowjetwissenschaften«. Nach der Uraufführung das Stückes »Die Umsiedlerin« von Heiner Müller 1961 durch die Studentenbühne der HfÖ gab es disziplinarische Konsequenzen.
Seit den 1970er, vor allem aber seit den 1980er Jahren war die Entwicklung der DDR gekennzeichnet von zunehmenden gesellschaftlichen Widersprüchen und volkswirtschaftlichen Disproportionen. So wurden volkswirtschaftliche Proportionalitäts- und Effektivitätserfordernisse seitens der Leitungsorgane zwar erkannt, im Widerspruch dazu standen jedoch die oftmals voluntaristischen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Betont wurde auch die Notwendigkeit einer größeren Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Unternehmen und Kommunen, aber es fehlte die Bereitschaft, etwas von den volkswirtschaftlichen »Kommandopositionen« aufzugeben. Die dem Unternehmensgewinn zugeschriebene dominierende Rolle als Effektivitätskriterium stand im Widerspruch zum stark zentralisierten System staatlicher Preisregulierung.
Unter diesen Bedingungen – aber nicht nur deshalb – musste in den 1960er Jahren der Versuch scheitern, durch eine stärkere Nutzung der Wertkategorien im Rahmen des Neuen Ökonomischen Systems die materielle Interessiertheit der Wirtschaftssubjekte auf eine hohe Effektivität sowie die Steuerung und Sicherung der volkswirtschaftlichen Wachstumsziele zu lenken. Die unzureichende Nutzung des Geldes zur Leistungsbewertung, Leistungsstimulierung und Wachstumssteuerung trugen wesentlich zur eingeschränkten Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsmechanismus im realen Sozialismus bei.
Diese und andere deutlicher werdende gesellschaftliche Widersprüche wurden in der Arbeit der HfÖ unterschiedlich reflektiert. Wissenschaftler der Hochschule haben als ordentliche Mitglieder des Forschungsrates der DDR und als Leiter bzw. Mitglieder von Regierungskommissionen an der Ausarbeitung von wirtschaftsstrategischen Alternativen verantwortlich mitgewirkt. Zugleich gab es eine verbreitete und verinnerlichte Anpassung an politische Vorgaben und bei der Suche nach Alternativen sowie nach der offenen Auseinandersetzung auch die nicht unberechtigte Furcht vor persönlichen und beruflichen Konsequenzen. Das längst als notwendig Erkannte wurde nicht rechtzeitig und nachdrücklich genug artikuliert, sondern nur in kleinen Zirkeln und hochschulinternen Publikationen debattiert. Bei der Produktion von Büchern, insbesondere Lehrbüchern, spielte auch die Beurteilung, man kann schon sagen die Zensur, durch die zuständigen Parteiorgane eine nicht unwesentliche Rolle. Im Wissen darum wurde von den Autoren manches »glatter« formuliert, als es der Realität oder den Anforderungen entsprach. Bereitschaft zur Selbstzensur nannte es ein Kollege.
Man muss aber festhalten, dass es an der HfÖ auch immer ein Potenzial kritischen wissenschaftlichen Denkens gab und damit die Bedingungen und die Atmosphäre für einen wissenschaftlichen Meinungsstreit. Das führte zwangsläufig auch zu Konflikten. So waren selbst empirisch belegte Studien von Wissenschaftlern der HfÖ, zum Beispiel über den ökonomischen Widersinn der extrem niedrigen Wohnungsmieten in der DDR, wiederholt Gegenstand massiver Kritik. Solch politisch brisante Themen konnten nicht publiziert werden, wurden aber intern diskutiert und auch in der Lehre verwendet.
Zur Geschichte dieser Hochschule gehören auch die 1989/1990 eingeleiteten Veränderungen. Mit einer neuen Struktur sollten personelle und organisatorische Voraussetzungen für die notwendige inhaltliche Neuausrichtung von Lehre und Forschung geschaffen werden, nachdem es in einzelnen Lehrgebieten Anfänge dazu schon seit Mitte der 1980er Jahre gegeben hatte. Notwendig wurde zum Beispiel eine stärkere Ausprägung des betriebswirtschaftlichen Profils, nachdem die HfÖ seit ihrer Gründung vorwiegend volkswirtschaftlich und zweigökonomisch orientiert war. Die Hochschule erhielt aber keine Chance, diese Reformen weiterzuführen.
Ungeachtet der Leistungen und ihres wissenschaftlichen Potenzials wurde sie nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als eine nicht zum westdeutschen Wissenschaftssystem passende Einrichtung eingestuft und als politisch nicht systemkonforme Institution abgewickelt. Im Vertrag zur deutschen Einheit Art. 38 (1) ist zwar die Rede von der »notwendigen Erneuerung von Wissenschaft und Forschung unter Erhalt leistungsfähiger Einrichtungen« auf dem Gebiet der DDR. Es sollte eigentlich nicht nur um die Angleichung der ostdeutschen Wissenschaftsstruktur an die in der Bundesrepublik vorhandenen Strukturen und Inhalte gehen, sondern auch um die Reform des Hochschulwesens als Ganzes. Eine solche Interpretation des Einigungsvertrages wurde bezogen auf die HfÖ wohl nie in Betracht gezogen. Eine objektive, differenzierte Bewertung der Hochschule und ihres wissenschaftlichen Potenzials hat nie stattgefunden, auch keine individuelle Evaluierung der Hochschullehrer. Es genügte im Grunde der Hinweis auf die HfÖ als Kaderschmiede der DDR, um diese Abwicklung zu rechtfertigen. Fast alle Mitarbeiter wurden entlassen, darunter 70 Professoren, nachdem bereits vorher etwa 30 in den vorzeitigen Ruhestand oder in die Arbeitslosigkeit gedrängt worden waren.
Was ist geblieben von der HfÖ und kann uns ihre Geschichte heute noch Anregungen vermitteln? Da sind erstens die Absolventen. Entgegen Prognosen der damaligen Wissenschaftssenatorin Barbara Riedmüller (SPD), die den HfÖ-Absolventen in der Marktwirtschaft wenig Chancen einräumte, haben diese sich unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in der Wirtschaft, bei Banken und Versicherungen, in Unternehmensberatungen und als Unternehmer, in kommunalen Einrichtungen und sogar in zentralen Einrichtungen des Bundes und der EU bewährt und teilweise Führungspositionen eingenommen. Viele ausländische Absolventen haben in ihren Heimatländern hochrangige Positionen in Wirtschaft, Politik oder im diplomatischen Dienst inne und bekennen sich öffentlich gern zu ihrer Hochschule.
Offensichtlich verdient die Ausbildung an der HfÖ eine vorurteilsfreie, differenzierte Beurteilung. Das Studium war ganzheitlich orientiert und nicht auf eine eng ökonomistische Ausbildung ausgerichtet. Wichtiges Merkmal war sein gesellschaftlicher, insbesondere sein sozialer Bezug – die Absolventen sollten sich auch durch soziale Kompetenz auszeichnen. Es sollte als wissenschaftlicher Prozess nicht nur Wissen und Details vermitteln, sondern auch die Absolventen zum selbstständigen Arbeiten und Denken befähigen und sie in die Lage versetzen, die Zusammenhänge, Erfordernisse und Gesetzmäßigkeiten des betrieblichen und volkswirtschaftlichen Wirtschaftskreislaufes zu verstehen und sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Absolventen, die heute in leitenden Positionen tätig sind, schrieben mir: »Vieles, was wir während des Studiums lernten, ist heute nicht mehr nutzbar. Wichtiger als Inhalte waren für unsere Entwicklung die erlernten Denk- und Arbeitsweisen.«
Kritisch ist aber festzuhalten, dass Offenheit und Pluralität im Studium zu kurz kamen. Das verengte den Horizont der Studenten und behinderte eine wissenschaftliche Streitkultur und die produktive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Auffassungen. Ganzheitliche Orientierung bedeutet schließlich, ökonomische Prozesse immer aus betrieblicher, volkswirtschaftlicher und weltwirtschaftlicher Sicht zu betrachten. Das wissenschaftliche Profil der HfÖ bot dazu gute Voraussetzungen.
Daraus ergibt sich ein zweiter Punkt: Die sich ständig vertiefenden gesellschaftlichen nationalen und globalen Widersprüche sind nicht ohne Renaissance gesamtvolkswirtschaftlichen Denkens und Handelns zu lösen. Marktlogik ersetzt kein Gesellschaftsdenken und löst keine gesellschaftlichen Probleme. Durch das Primat der Politik über die Märkte müssen ganzheitliche gesellschaftliche Interessen über die von Gruppen gestellt und unterschiedliche Eigentumsformen und Interessenkonstellationen auf ein gesamtvolkswirtschaftliches Ziel orientiert werden. Weder das zentralistische, noch das marktradikale System bieten dazu Lösungen an oder können eine Antwort auf die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen geben. Die wichtigste Erfahrung des gescheiterten Sozialismusmodells aber ist, dass die Antworten nur in einer demokratischen Gesellschaft und auf demokratische Weise gefunden werden können.
Prof. Dr. Walter Kupferschmidt, geb. 1931, war von 1972 bis 1979 Rektor der Hochschule für Ökonomie. Der gelernte Chemielaborant arbeitete zunächst im Außenhandel. Von 1959 bis 1963 war er Generaldirektor des AHB Chemie Export-Import. Danach studierte er an der HfÖ, wo er 1967 promovierte. Bis 1990 war er Hochschullehrer an der HfÖ. Heute leitet er einen Verein von ehemaligen Angehörigen des HfÖ-Lehrkörpers.
Konferenz: »Ökonomische Lehre und Forschung in der DDR und der BRD. Erfahrungen, Probleme und Zukunftsanforderungen«
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