Indien will Armut mit Federstrich tilgen

Millionen Bürgern droht Streichung von Hilfen

  • Henri Rudolph, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.
Wo beginnt Armut? Diese Frage wird momentan in der Öffentlichkeit Indiens hitzig debattiert, nachdem die staatliche Plankommission angekündigt hat, die offizielle Armutsgrenze verändern zu wollen. Über ein entsprechendes Ansinnen informierte sie kürzlich den Höchsten Gerichtshof des Landes.

Die Absicht ist, dass jeder Inder, der in städtischen Gebieten von mehr als 32 Rupien (etwa einem halben Euro) und in ländlichen Gebieten von mehr als 26 Rupien (weniger als 30 Cent) pro Tag lebt, nicht mehr unter die Armutskategorie fällt. Die Betroffenen verlören damit die Berechtigung, im sogenannten Öffentlichen Verteilungssystem (PDS) Nahrungsmittel zu subventionierten Preisen zu bekommen. Die Plankommission stützt sich bei ihrem Vorhaben auf eine Empfehlung eines Komitees aus dem Jahre 2009, das eine ältere Methode, Armut durch Messen der Kalorienzufuhr zu bewerten, verworfen hatte. Neuer Maßstab sollten die Ausgaben für Nahrungsmittel, Bekleidung, Bildung und Gesundheit sein, wobei unterschiedliche Standards für die Bevölkerung in Stadt und Land gelten sollten.

Millionen Inder würden durch einen Federstrich offiziell nicht mehr als arm gelten, wenn das Vorhaben der Plankommission verwirklicht wird. Die Regierung hätte damit einen »Beweis« dafür geliefert, wie erfolgreich sie im Kampf gegen die Armut ist. Und der Staatshaushalt würde durch weniger Ausgaben für die Bedürftigen spürbar entlastet werden.

Indien würde sich jedoch beträchtlich von der international anerkannten Armutsgrenze entfernen, die bei 1,25 US-Dollar pro Tag und Kopf liegt. Nach diesem Standard leben auf dem Subkontinent mindestens 400 Millionen Menschen, also nahezu jeder dritte Bürger, in Armut. Befragungen der indischen Medien unter Bürgern mit minimalem Einkommen machten deutlich, dass selbst für bescheidene Mahlzeiten 100 Rupien pro Tag aufgewendet werden müssen.

27 prominente indische Wirtschaftswissenschaftler haben in einem offenen Brief an die Plankommission den neuen Maßstab für die Armutsgrenze als nicht akzeptabel kritisiert. Es sei kontraproduktiv, Grundansprüche der Armen, beispielsweise ihren Zugang zu Nahrungsmitteln, mit offiziellen Armutsschätzungen zu verknüpfen. Die Ökonomen schlagen dagegen vor, das öffentliche Verteilungssystem auszudehnen und nicht durch Aufteilung der Bedürftigen in Gruppen einzuschränken. Sie verweisen auf die verbreitete Unterernährung und auf die seit Monaten drastisch steigenden Lebensmittelpreise bei einer Inflationsrate von nahezu 10 Prozent.

In einer Stellungnahme erinnert die Asiatische Menschenrechtskommission daran, dass Indien laut dem von der Weltbank veröffentlichten Weltentwicklungsindikator 2011 das einzige Land ist, das die Größe seines armen Bevölkerungsteils sehr unterschätzt. Jairam Ramesh, Minister für ländliche Entwicklung, ersuchte Montek Singh Ahluwalia, den stellvertretenden Chef der Plankommission, Alternativen zu den jetzigen Vorstellungen in Erwägung zu ziehen. Nach Rameshs Einschätzung birgt die Neufestlegung der Armutsgrenzen sozialen Sprengstoff. Der frühere Finanzminister Yashwant Sinha von der oppositionellen Indischen Volkspartei (BJP) äußerte, weder Premierminister Manmohan Singh noch Montek Singh Ahluwalia hätten eine reale Vorstellung von der Armut in Indien. Sie ließen sich kaum zu Gesprächen mit Armen in den Dörfern blicken. Die Plankommission sei völlig isoliert von der Masse des Volkes.

Ob die durch Korruptionsskandale angeschlagene Regierung der Vereinten Progressiven Allianz sich beim heiklen Problem der Massenarmut mit ihren Vorstellungen durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Der Höchste Gerichtshof wird sich dazu gewiss nicht in Schweigen hüllen.

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